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Hundertvierzehn | Extra
»Die unerfundenen dritten Möglichkeiten«

Die »eigentümliche Poesie der Fußnote«  und ein Treffen mit Franz Friedrich in der Leipziger Thomaskirche. Hans-Martin Gauger, Fachkurator der Jürgen Ponto-Stiftung, und Oliver Vogel, Programmleiter für deutschsprachige Literatur beim S. Fischer Verlag, berichten in ihren Laudationes zum Jürgen Ponto-Preis von den Besonderheiten des prämierten Romans und der ersten Begegnung mit dem Autor.

 
Franz Friedrich

Franz Friedrich, geboren 1983, studierte Experimentalfilm an der Universität der Künste Berlin und in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Er lebt in Berlin. Für seinen Debütroman ›Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr‹ wurde er mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2014 ausgezeichnet.

Sehr geehrter Herr Professor Gauger,
sehr geehrter Herr Dr. Röller,
lieber Arnold Stadler,
lieber Ralph Suermann,
meine Damen und Herren,
lieber Franz Friedrich,

Anfang März 2013 haben wir im Verlag einen kurzen Ausschnitt des Romans von Franz Friedrich bekommen. Er war damals im LCB, dem Literarischen Colloquium in Berlin, und hat an einer Romanwerkstatt teilgenommen.
Extra

Lesen Sie hier die Laudatio von Hans-Martin Gauger, Fachkurator der Jürgen Ponto-Stiftung.
Weiterlesen

Sieben Seiten wurden damals in der Zeitschrift ›Sprache im technischen Zeitalter‹ veröffentlicht (zusammen mit den Texten der anderen neun Teilnehmer). Diese sieben Seiten entsprechen halbwegs den ersten Seiten des Romans, wie sie jetzt erschienen sind. Einer der Protagonisten des Romans, ein namenloser Filmstudent, schaut sich im Keller des Filminstituts, an dem er studiert, einen alten Dokumentarfilm an: ›Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr‹ heißt dieser Film und wurde vor Jahren von Susanne Sendler gedreht, einer Dokumentarfilmerin, die seither verschwunden ist. Der Student sieht die Kopie einer Kopie, das Original ist lange schon verschollen – und er zerstört, versehentlich, auch diese letzte Kopie.

Der Textausschnitt endet mit den Sätzen: »Damals wurde er von einer Euphorie erfasst, die etwas Überdrehtes und Idiotisches hatte.« So ähnlich ging es uns auch nach den sieben Seiten. Albert Henrichs, sein Lektor, und ich verabredeten uns mit Franz Friedrich in Leipzig auf der Buchmesse. Dort, in Leipzig, singt samstags spätnachmittags in der Thomaskirche der Thomanerchor. Eine gute Möglichkeit, dem Trubel auf der Messe mal für eine Stunde zu entgehen: ein anderer Ort, eine kleine Flucht, eine unbedeutende, stille Form der Arbeitsverweigerung, also des Widerstands (getarnt als Autorentermin). Dort trafen wir uns. Dass ein Chor – wenn auch einer, der statt Bach finnische Lieder singt – im Roman eine wichtige Rolle spielen würde, konnten wir da noch nicht wissen.

Ich gehe jetzt in der Zeit noch etwas weiter zurück. Als ich etwa sechzehn oder siebzehn war, ging ich oft nach Darmstadt ins Staatstheater. Dort habe ich irgendwann ein Stück von Robert Musil gesehen, ›Die Schwärmer‹ hieß es. Ein schwermütiges, verhaltenes und kompliziertes Stück, von dem ich fast nichts verstanden habe. Was mich verfolgt hat und seitdem begleitet, ist ein Satz, der ziemlich am Anfang gesagt wird. Regine, eine der verlassenen Figuren des Stücks und womöglich deren verruchteste, sagt: »Jeder Mensch kommt auf die Welt mit Kräften für die unerhörtesten Erlebnisse. (...) Aber dann lässt ihn das Leben immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen, und immer fühlt er: eine ist nicht darunter; immer eine, die unerfundene dritte Möglichkeit.« (Schwärmer 311)

Als wäre die Wirklichkeit ein Gegenüber, etwas, vor dem wir stehen, etwas, das einem zwei Alternativen lässt, rechts oder links, aber man weiß: Beide führen in die gleiche Richtung. Wie immer man sich entscheidet, man bleibt, indem man zwischen den Alternativen wählt, vor dieser Wirklichkeit stehen. Nun spricht ja nie etwas gegen die Wirklichkeit. Wir leben in ihr, wir gehen durch Türen, wenn sie offen sind, und über die Straße, wenn kein Auto kommt. Regine in den ›Schwärmern‹ wird von ihrem Mann »Träumelinchen« genannt. »Kleines nasebohrendes Träumelinchen«. Wer sich entschließt, nach den dritten unerfundenen Möglichkeiten zu suchen, wird so genannt werden.

Franz Friedrich hat einen Roman geschrieben, in dem ein etwa 13 cm großer, 12 Gramm schwerer und, zumindest in Lappland, gewöhnlicher Singvogel aufhört zu singen. Wegen dieses Vogels wird eine Insel evakuiert. Am Ende des Romans singen die Meisen wieder, wenn man dieses Zwitschern Singen nennen will, und die Menschen kehren zurück auf die Insel. Das ist die Erzählung, um die herum sich die Geschichten des Romans aufbauen.

Den Hintergrund bildet ein historisches Ereignis. Ein neues Staatengebilde entsteht, ein neues Kerneuropa, in das Deutschland, das in unserer Vorstellung doch so europäisch ist wie kein anderes Land, nicht aufgenommen wird. In diesem Roman bilden sich lange Schlangen vor Essensausgaben für Arme in Berlin. Und verzweifelte, wütende Menschen versammeln sich auf den Straßen, um gegen die Politik der Bundesregierung zu demonstrieren. Unser Land steht in diesem Roman im Jahr 2007 vor dem Zusammenbruch.

Was Franz Friedrich macht, ist etwas ganz und gar Ungewöhnliches, eigentlich: etwas Unmögliches. Er schreibt einen politischen Roman, etwas wie eine Utopie mit dystopischen Elementen, oder eine Dystopie mit utopischen Momenten. Ein politischer Roman muss, weil er ja etwas will, bereit sein zu einer gewissen Vereinfachung, zu Figuren, die etwas durchleben, was beispielhaft werden kann und beim Leser zu einer Handlung führt. Wir haben es aber zu tun mit Figuren, die man, mit Musil, als Träumelinchen bezeichnen könnte. Diese Figuren drehen einen Film, wie Susanne Sendler, sind aber zu schüchtern, mögliche Interviewpartner anzusprechen; sie schreiben ihre Abschlussarbeit, wie die Amerikanerin Monika, versinken aber während sie sich Fotos in einer Zeitschrift aus den 20er Jahren ansehen, in Phantasien über riesige prähistorische Biber, die den Verlauf der sowjetischen Geschichte menschenfreundlicher gestaltet hätten; sie ziehen sich auf die Schären vor Stockholm zurück, wie der Filmstudent, und leben von Blaubeeren und Pilzen, wissen aber, dass das mit der Realität nichts zu tun hat. Diese Figuren setzen sich nicht zur Wehr, ziehen sich zurück aus ihrer Realität. Der Filmstudent, der die letzte Kopie des Meisen-Films zerstört, verlässt Frau und Kind, um auf der fernen Insel selbst die Meisen zu filmen. Und vorher schon verschwinden die Insekten und die Blumen auf den Wiesen verlieren ihren Duft, weil Außerirdische, die wie leuchtende Quallen aussehen, fast unbemerkt über die Erde schweben.

Ich wollte seltsamerweise, als ich angefangen habe, diese Rede zu schreiben, mit ein paar allgemeinen Sätzen über den Kapitalismus beginnen. – Über den Kapitalismus! Ich habe glaube ich noch nie ein paar allgemeine Sätze über den Kapitalismus sagen wollen. Und ausgerechnet jetzt, bei einem Roman, der einen kleinen windzerzausten Vogel zum Helden hat, der das Singen aufgegeben hat, wollte ich das tun. Sie werden bemerken, ich habe die Sätze wieder gestrichen. Und doch habe ich mich gefragt, wie ich darauf gekommen bin.

Ihre erste Begegnung mit einer der stummen Meisen beschreibt Susanne Sendler, die Dokumentarfilmerin, so: »In diesem Moment, der mich vergessen ließ, warum ich hier war, erblickte ich auf einem Espenzweig eine kleine zerzauste Gestalt. Wind fuhr ihr durch das flaumige Gefieder, sie trotzte einer Böe, ich erkannte die Anstrengung in ihrem Vogelblick. Etwas Widerständiges, Partisanenhaftes lag darin. Die Lapplandmeise sperrte den Schnabel auf (...), dann schloss sie den Schnabel wieder und öffnete ihn erneut. Dieses Verhalten wiederholte sie einige Male, und es erschien mir, als ob diese Geste an mich gerichtet sei und der Vogel versuchte, mir etwas mitzuteilen. Und kaum dass sich der Gedanke festigte, dass das Schweigen der Meisen möglicherweise auch gewollt sein konnte und ein Ausdruck des Protests war, flog die Meise davon (...)« (95f.)

Also: ein Kerneuropa ohne das zusammenbrechende Deutschland; Außerirdische, die die Natur erstarren lassen; trotzige Vögel, die nicht mehr singen, und in deren Vogelblick etwas Widerständiges liegt. Es kommt mir so vor, als wäre es vielleicht das, was mich an diesem Roman von Anfang an so gefesselt hat: Dass er politisch ist, sich einmischt, eine Haltung verlangt, ein anderes Leben vorschlägt – und es mit poetischen Mitteln tut. Seine Figuren, Menschen wie Tiere, haben eine großartige Begabung für die unerfundenen dritten Möglichkeiten. Wahrscheinlich schweigen die Meisen deshalb. Sie schweigen, weil sie träumen. Und dieses Schweigen verstehen sie als Widerstand. Sie wenden sich ab von der Wirklichkeit, sie erfinden schweigend die dritte Möglichkeit. »Ich kenne diese Meise« (97), sagt Susanne Sendler und schaut dem Vogel dabei in die Augen. Ich kannte diese Frau (162 und 163) auf dem Foto, das aus der Sowjetunion der 20er Jahre stammt, denkt Monika und überwindet die schwindelerregende Kluft zwischen ihrer Wirklichkeit und der, in der die prähistorischen Riesenbiber die Welt retten. Monika sei dort gewesen, heißt es. »Nicht in einem vorherigen Leben, nicht als Zeitreisende, sie war dort gewesen als Möglichkeit im Universum aller Möglichkeiten.« (164)

Und ich kenne diese schüchternen, sich schämenden, schwankenden Gestalten, diese Idioten und Schwärmer, diese Träumer, die in ihrer Unbeholfenheit wegrutschen aus der Wirklichkeit, die Zeichen lesen, wo es wahrscheinlich keine gibt, die von einer Euphorie erfasst werden, die etwas Überdrehtes und Idiotisches hat. »... in der Fiktion darf nicht gelingen, was in der Realität scheitert.« (182) Dieser Satz steht etwa in der Mitte des Buches. Dass am Ende gelingt, was sonst in der Realität scheitert, das öffnet einen Raum, der weit über diesen Roman hinausgeht. Die Leser dieses Buches – im besten Fall Sie, meine Damen und Herren – sollten träumen wollen, und diese Träume als Widerstand begreifen. »... in der Fiktion darf nicht gelingen, was in der Realität scheitert.« Also muss eine Fiktion geschaffen werden, die die Realität verändert. Für ein solches unerhörtes Erlebnis wird man Kräfte brauchen, Kräfte, die der Autor dieses Buches hatte. Ich glaube, auch Arnold Stadler weiß, wovon ich spreche.

Meine Damen und Herren, Franz Friedrichs Roman schöpft diese unerfundenen dritten Möglichkeiten aus. Bei ihm wird, was möglich ist, wirklich. Diese wachen Wahrnehmungen der Möglichkeiten erweitern, nein: Sie öffnen die Welt, in der wir doch etwas beengt sitzen. Uusimaa ist eine Insel im Bottnischen Meer vor der Küste Finnlands und, natürlich, eine vom Autor erfundene dritte Möglichkeit. Die vom Autor gezeichnete Karte dieser Insel, deren Genauigkeit zumindest für eine kleine fiktive Wanderung ausreichen wird, finden Sie in der Zeitung, die wir auf ihren Sitz gelegt haben.

© Oliver Vogel

Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr

Eine Dokumentarfilmerin dreht auf Uusimaa ihren einzigen Naturfilm. Im heißesten Februar seit Menschengedenken trifft eine amerikanische Studentin in Berlin auf eine rätselhafte Chorgruppe. In Brüssel verlässt ein junger Filmemacher Frau und Kind. Franz Friedrich nimmt uns mit in eine einsame Waldhütte, auf einen finnischen Eisbrecher und in das Innere eines abstürzenden Flugzeugs. Und plötzlich, nach zwei Jahrzehnten unerklärbarer Stille, fangen die Meisen auf der Insel Uusimaa wieder an zu singen. Die Konturen einer Zukunft blitzen auf und die Zerwürfnisse unserer Zeit werden sichtbar. Dieser Debütroman legt vorsichtig eine neue Wirklichkeit über unsere alternativlos erscheinende Gegenwart.


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