László Krasznahorkai zum 60. Geburtstag am 20. September 2014 beim ILB, Berlin
Von Verena Auffermann
Wir müssen uns nicht auf eine Trittleiter stellen und mit dem Ärmel die beschlagenen Scheiben abwischen, um dahinter den großen László Krasznahorkai zu erkennen. Wir sollten auch nicht in die Knie gehen. Wir sind sowieso nur kleine Gehilfen. Der Meister schreibt hohe Bücher, der Meister feiert seit neun Monaten seinen Geburtstag rund um die Welt. Heute haben wir die Chance, das Hütchen zu ziehen. Eine rare Chance, denn meistens ist er nicht zu erreichen. Er wechselt die Genres: Schriftsteller, Essayist, Drehbuchautor. Er wechselt die Genies seiner Freunde: Sänger, Maler, Dichter. Drei: Sängerin, Maler und Dichter ehren ihn heute Abend. Er wechselt die Schauplätze: Ungarn, Asien, insbesondere Kyoto, Amerika, Deutschland, insbesondere Berlin. Er wildert durch sein Leben, und das Leben ist sein Kopf, sein Wissen, seine Beobachtungsgabe, seine Hingabe daran, seine Geduld. Er ist immer da, wo wir nicht sind: »Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss«, der Satz ist László Krasznahorkai im Original. Und der Satz mit den vier Himmelsrichtungen katapultiert uns direkt in sein nicht nur aus Himmelsrichtungen, sondern auch aus Denk- und damit aus Religionsrichtungen bestehendes Universum. Das Fremde holt der forschende Schreiber in die direkte Nähe und auf das Papier.
Wir müssen mit ihm reisen, und wir müssen Zeitsprünge und alle möglichen Eskapaden mit einkalkulieren. Wir sollten uns mit ihm in all seinen vielen Büchern auf die Suche machen, auf die Suche nach der Schönheit und der Ruhe. Diese Suche führt an dem Schrecklichen und an dem Grausamen vorbei oder in es hinein. Wie das immer ist, weisen uns die Schriftsteller selbst den Weg zu ihnen, manchmal bewusst, manchmal ohne es selbst zu ahnen. Der »überempfindliche Prinz«, so nennt Krasznahorkai den Enkel des berühmten Prinzen Genji, dem er eine Hauptrolle in einem seiner Bücher gibt. Dort beschreibt er den jungen Mann als einen Menschen, der »von den Möglichkeiten der Wirklichkeit angegriffen ist«.
Der Überempfindliche, der von den Möglichkeiten der Wirklichkeit angegriffen ist, muss als ein Wegweiser zum Werk und Wesen von László Krasznahorkai verstanden werden.
Ein kleines Beispiel aus einem seiner Bücher: Begeben wir uns in die Nähe eines Klosters, ziehen mit dem Duft der Räucherstäbchen das Aroma des betäubend Schönen durch die Nase ein, kaum sind wir Knall auf Fall verzaubert, kommt der Meister Krasznahorkai und deutet mit flachen Worten auf die Wand einer Bretterbude, dreizehn Goldfische hängen da mit eingetrockneten Schuppen, mit dreizehn Nägeln befestigt, direkt durch die Augen gestoßen. Der Geruch des parfümierten Rauchs hängt noch in der Luft, die schillernde Schönheit der Goldfische ist noch zu erkennen, doch das Mörderische hat gezielt und ins Auge getroffen.
»Es vergeht, aber es geht nicht vorüber«, das ist eine der typischen philosophischen Prophezeiungen, mit denen der Schriftsteller sich in seinem gesamten Werk auseinandersetzt. Damit die Schönheit – und von deren mannigfaltiger Gestalt versteht dieser Seins-Erkunder viel – nie Gefahr läuft, an sich selbst zu ersticken. Und weil das so ist, liebt er es, sich ins Wort zu fallen. Das ist das Gespräch des Autors mit sich selbst.
Vor sechzig Jahren und neun Monaten hat seine »Utopie des Wartens« in dem ungarischen Ort Gyula begonnen, er kann schön davon erzählen, wie er sich als Junge nachts, wenn alle schliefen, aus dem Haus schlich, leise die Türen hinter sich zuzog, um einen Lehrer zu besuchen, und damit den Schatten der Nacht zu entkommen. Entkommen ist er als junger Mann auch dem Jurastudium, das in dem kommunistischen Land ein besonderes Studium war, um in den Sprachen und der Literatur das zu finden, was ihn interessierte. Dass er in der Welt des Kommunismus groß geworden ist, und wie man mittendrin überlebte, hat er in dem Roman »Melancholie des Widerstands« beschrieben. Ein ausgestopfter Wal reist mit einer Zirkusgruppe durch das Land. Ein ausgestopfter Wal! So gab er einem politischen System ein neues unflätiges Wappentier und ließ seinen Erzähler herzhaft auf Budapest schimpfen, auf die ganze »beschissene Stadt« und gleich dazu noch auf das ganze »räudige Land«. ›Die Melancholie des Widerstands‹ erschien 1989, da war der ›Satanstango‹ schon seit vier Jahren veröffentlicht, jener ›Satanstango‹ den Béla Tarr meisterhaft verfilmte. Es geht im ›Satanstango‹ um einen charismatischen Verführer, der alles den Menschen, die an seinen Lippen hängen, verspricht und in Wahrheit ein jämmerlicher Spitzel des Systems ist.
1989 öffneten sich Vorhänge und Verschläge, und der Autor eilte in schnell fahrenden Zügen »als schwämme er in Butter... wie geölt China entgegen«. Die Wüste Gobi war durchquert, Peking erreicht, auf den Spuren Marco Polos entwirft er im ›Gefangenen von Urga‹, ein Bild von der Welt, das reich ist an seltenen Sätzen. Wer diese Bücher kennt, verbindet die Orte mit ihnen, geht mit seinen Augen durch Peking, versucht zu sehen, was er gesehen hat. László Krasznahorkai, ein magischer Reiseführer, abseits bekannter Belehrungen.
Man kann nicht über die Bücher von László Krasznahorkai nachdenken, ohne die Schwermut zu streifen, jenen unsagbar langen Zustand, der viele Nuancen und Tönungen hat und der in den rücksichtslos mäandernden Sätzen wie eine Schlange hausiert. Diese Sätze sind geeignete Wohngemeinschaften für unterschiedliche Milieus. In ihnen wird am Geräuschpegel gedreht. Sinn für Melodien, Rhythmen, tanzend und torkelnd, schleichend und sich windend. Der Satz im Werk von László Krasznahorkai hat Platz für Schwingungen und hört bisweilen seitenlang nicht auf. Man muss an dieser Stelle auch seinen Übersetzern ein Kompliment machen. Denn leicht ist das nicht und dazu die Schwermut als Basso continuo. Sie ist nicht lähmend, kein Abschiedsblick, der »schwere Mut« ist der blinde Passagier vieler von László Krasznahorkais Geschichten.
Die letzte Verbeugung gilt dem Erzählungsband ›Seiobo auf Erden‹, ein Buch das in seinen 17 Geschichten keinen kleineren Anspruch hat, als die Welt und das mögliche Heilige in ihr zu ergründen. So wie der Reiher tagelang wie angewachsen auf den ausgehöhlten Steinen eines Flussbettes steht und steht. Mit seiner natürlichen Grazie verbreitet er eine angespannte Ruhe und Seinsvergessenheit. Ringsum inszeniert die Zivilisation ihr Horrorspektakel, aber der Reiher mit seiner physischen Hochspannung setzt alle Schaltkästen außer Kraft.
Und dann ist da noch die Japanerin Seiobo – und wer außer ihr wäre besser geeignet, László Krasznahorkai zu seinem ewigwährenden Geburtstag zu gratulieren – Seiobo, die Königin, die uns der Utopie des Wartens ausliefert. Die, so erzählt Krasznahorkai die mystische Legende, alle 3000 Jahre eine irdische Gestalt annimmt, denn in diesem Jahr, und das, wie gesagt nur alle 3000 Jahre, blüht in ihrem Garten der Pfirsichbaum und trägt dann eine einzige Frucht und, aber das ist jetzt wie im Märchen – jetzt müssen Sie, liebe Gäste, selbst weiterlesen und nachsehen in ›Seiobo auf Erden‹, und der Gefeierte und nicht genug zu befeiernde ungarische Magier László Krasznahorkai wird von seinen Künstlerfreunden und von Ihnen als seine alten und neuen Leser als ein in aller Dunkelheit nach Helligkeit lechzendes Wesen in Erinnerung sein.
Den Dreitausendjahre-Pfirsich würde ich ihm gerne überreichen, aber da müsste eine japanische Königin kommen – oder ein neuer Roman von László Krasznahorkai, und der ist in Wirklichkeit bald zu lesen. Er heißt: ›Die Welt voran‹. Der Roman beginnt mit einer »Irrfahrt im Stehen« und endet so: »denn ich ließe hier diese Erde und diese Sterne, denn ich nähme nichts von hier mit, denn ich habe in das hineingeblickt, was kommt, und ich brauche von hier nichts.«
© Verena Auffermann

Dem Zauber des Beginns ist immer schon der Schrecken des Endes eingeschrieben. Von den europäischen Schriftstellern seiner Generation hat keiner dies so deutlich erfahren wie der ungarische Autor und europäische Weltbürger László Krasznahorkai. In seinem Werk, das im Moment eine aufsehenerregende Rezeption im angelsächsischen Raum erfährt, wird eine so betörend luzide wie düstere Karte unserer Gegenwart gezeichnet. Das leuchtende Dunkel Becketts, in dem er sich mit Kafkas Kompass bewegt, steht auch hinter den Erzählungen seines neuen Buches ›Die Welt voran‹, das durch die Musikalität seiner Sprache und die Eindringlichkeit seiner Bilder zur Widerspiegelung einer beinah geretteten Welt wird.