Zweimal hat er das Interview abgesagt. Ihm gehe es gesundheitlich zu schlecht, sagt mir seine Sekretärin. Die Lunge. Das Bein. Im April klappt es dann doch. Eine knappe Stunde bei ihm zu Hause, mehr nicht, das ist die Abmachung. »Und passen Sie auf den Hund auf! Der ist sehr zutraulich!« Mein Kameramann, Tonmann und ich machen uns von Berlin aus auf die Fahrt Richtung Lübeck und dann weiter nach Behlendorf. Im Navi existiert Grass’ Haus nicht. Da ist nur ein grüner Fleck. Zum Glück haben wir die Beschreibung der Sekretärin. Ein surreal klarer Tag. Die Büsche auf den sanften Hügeln zwischen den Feldern stehen in weißer Blüte. Habe ich eine Meinung zu Grass? Ja. ›Die Blechtrommel‹ und ›Hundejahre‹: immer noch zwei der besten Bücher, die je geschrieben wurden. Einer, der wie kaum ein anderer die Bundesrepublik und unser Bild des politisch bewussten Künstlers geprägt hat. Und das kann bei all der überzogenen Kritik an Grass, der natürlich selbst den Widerspruch sucht, nicht oft genug gesagt werden.
Nach einem kurzen Waldstück, in völliger Einsamkeit, hinter einem schmiedeisernen Tor: ein altes Jägerhaus mit ausgebautem Schuppen und einem verwilderten Obstgarten, aus dessen hohen Gras Skulpturen ragen. In seiner Bibliothek, in der wir die Kameras und das Licht für das Interview aufbauen, liegt unter der Karte Danzigs an einem Stehpult ein offenes handbeschriebenes Buch, der Beginn eines neuen Werks. Das Überraschende an Grass ist, wenn man ihn das erste Mal trifft, wie identisch er mit seiner eigenen Ikonisierung ist. Der Schnauzer, die Pfeife, der dicke Ring, die ruhige, heisere Stimme. Die wachen Augen, die funkeln, wenn es um die Jahre unmittelbar nach dem Krieg geht, der Hunger nach Kunst, den er auch im beistehenden Video beschreibt, die Gruppe 47, Willy Brandt und Angela Merkel. Aus einer Stunde werden am Ende zwei. Wir reden über seinen Freund Paul Celan, über Juli Zehs Aktion gegen die NSA. »Also, es müssen die jüngeren Autoren, wenn sie das fortsetzen wollen, gegen diese Art von Manipulation und Überwachung anzugehen mit härteren Bandagen kämpfen, damit sie gehört werden!«, gibt er mir mit auf den Weg.
Alexander Kluge
Alexander Kluge. Einer meiner Helden. Beschäftigt man sich mit der bundesdeutschen Kultur nach 1945, hat man manchmal das Gefühl, Kluge war fast überall mit dabei, sendete auf allen Kanälen, in allen Medien, und hielt sich doch immer, wie in seinen dctp-Sendungen, ganz im Hintergrund. Er war federführend bei der Gruppe 47, beim Neuen Deutschen Film und auch bei einer Institution, die 1968 nach nur fünfzehn Jahren für immer ihre Pforten schloss, obwohl ihre Produkte vielleicht mehr noch als die Bücher, Filme und Gemälde der Nachkriegszeit Teil unseres Alltags geworden sind: die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Man braucht nur einmal einen Blick auf die dort entworfenen Radios der Firma Braun werfen; dann weiß man, wo sich Apple sein Design abgeschaut hat. Kluge leitete dort zusammen mit Edgar Reitz die Filmabteilung. Kluge, Freunde von mir nennen ihn auch »den Weltgeist«, wohnt dann genauso, wie man sich einen Menschen vorstellt, der sich auch mit über 80 Jahren noch seine brennende Neugier auf nahezu alle Bereiche der Kunst, Wissenschaft und Geschichte bewahrt hat. Auf seiner Homepage steht seine Telefonnummer, unter der er sich dann wie selbstverständlich mit seiner leisen Stimme meldet, die immer etwas gehetzt klingt. »Ich mache keine Pläne«, hat er noch als Warnung gesagt. Zugegeben, das macht die Interviewterminierung etwas schwierig, aber am Ende klappt es dann doch.
Ein großes, altes Mietshaus mitten in Schwabing. Eine Wohnung, in der man leicht über die zahllosen Bücherstapel stolpern kann, und mittendrin an einem riesigen Schreibtisch Alexander Kluge, der, als wir eintreffen, gerade, wie kann es anders sein, an zwei Telefonen gleichzeitig spricht. Hier wohnt nicht nur der Weltgeist, hier, so kommt es mir kurz vor, ist seine Schaltzentrale, die über sämtliche Geschicke unseres Planeten wacht. Wir drehen in seinem eigenen kleinen Studio, in dem eine unfassbar schwere Kamera steht. »Die ist von Werner Herzog. Damit hat er seinen ersten Film gedreht. Und, was Sie vielleicht nicht wissen, geschnitten hat er ihn an Leni Riefenstahls altem Schneidetisch.« Und das ist dann erst der Beginn eines Gesprächs, das sich natürlich nicht nur um 70 Jahre Deutschland dreht, sondern am Ende auch um die gesamte Weltgeschichte. Und um den Kollektivfilm ›Deutschland im Herbst‹, an dem Kluge neben Reitz, Schlöndorff und Fassbinder und vielen anderen mitwirkte. Auch wenn Fassbinders Arbeitsweise auf seine Kollegen etwas einschüchternd wirkte, wie man im Videoausschnitt hören kann…
Herbert Grönemeyer
Anfang Mai in den Hansa-Studios in Berlin. Herbert Grönemeyer arbeitet hier an seinem neuen Album. Wir haben genau eine Stunde für den Aufbau. »Das Bild muss dann fertig eingerichtet sein«, wie man so sagt. Heißt im Klartext: Das Licht muss richtig fallen, der Ton muss sitzen, die Kameras müssen richtig stehen, der Raum muss Tiefe haben. Das kann eine halbe Stunde dauern. Das kann drei Stunden dauern. Deswegen ist es immer eine Herausforderung, wenn man den Raum, in dem man dreht, nicht vorher kennt. Der Raum, in dem wir das Interview drehen sollen, ist dann … naja, sagen wir es so: schwierig. Gegen die Fenster können wir nicht drehen, die andere Seite hat eine traurig moderne Tür und einen sterilen Konferenztisch zu bieten. Als das Interview dann beginnt, bin ich schweißgebadet, starre auf das riesige Gemälde neben Grönemeyer, das wir in einem Akt der Verzweiflung in letzter Minute auf den Kopf gestellt haben, und auf die im Raum verteilten Mikrofone, die eine Studioatmosphäre simulieren sollen. Ist das nun ein Bild? Keine Zeit für solche Gedanken, denn Grönemeyer ist ein extrem wacher Gesprächspartner, für den die politischen Themen, die ich anspreche, ein echtes Anliegen sind. Außerdem völlig unprätentiös, unüberhörbar Ruhrgebiet-stämmig, was alle Antworten auf angenehme Weise erdet. Und die neue CD? »Wir brauchen noch ein paar schnelle Nummern. Sind jetzt ein bisschen viele Balladen.«, sagt er lächelnd. Und die Texte? »Die kommen ganz am Schluss. Sind für mich wie Fotos. So Momentaufnahmen.« Am Ende eines fast zweistündigen Interviews lasse ich mir meine Lieblings-CD von Grönemeyer signieren. ›Bleibt alles anders‹. Ich sage ihm, dass mich das letzte Lied, ›Schmetterlinge im Eis‹ immer wieder erschüttert und dass ich es gerade deshalb für ein Wahnsinnsstück halte. »Ja«, sagt er leise. »Das habe ich für meine Frau geschrieben, die damals gestorben ist. Kann ich nicht mehr singen. Schaffe ich nicht.«
Roger Willemsen
Wie gesagt: Das Bild einrichten und so. Das kann schwierig sein. Richtig schwierig war das beim Dreh mit Roger Willemsen. Wieder eine Stunde Aufbau, und dann genau zwei Stunden Zeit für das Interview, da Roger Willemsen genau um 12 Uhr weg muss. Ich habe über 40 Fragen, die von der Gruppe 47 bis zur Kunst der Gegenwart reichen. Das Hotelzimmer am Potsdamer Platz macht es uns nicht leicht. Es wehrt sich. Es will einfach nicht gefilmt werden, ich verstehe das nur allmählich, nachdem ich meinem schweißüberströmten Kameramann zum dritten Mal sage: Die Ecke hier ist es auch nicht, wir müssen das Sofa verschieben und der Stuhl muss genau DA hin! Und wir haben noch genau zehn Minuten!
Abgesehen davon ist dieses Interview vielleicht jenes, das mich am meisten beeindruckt hat. Roger Willemsen gab während unseres Aufbaus bis eine Minute vor Gesprächsbeginn ein Telefoninterview, alle Tage davor und danach hatte er Auftritte und Termine. Ich hatte Sorge von wegen nur zwei Stunden Zeit, da er so etwas wie der Host meiner Filme sein und alle wichtigen kulturellen Ereignisse der letzten 70 Jahre kommentieren sollte. Sorge unbegründet. Jede Antwort druckreif und äußerst klug. Und das ist an dieser Stelle wirklich keine Phrase. Am Ende eine niederschmetternd schwarze Gegenwartsdiagnose: »Die Protestbewegungen in Ländern des arabischen Raums werden fasziniert, aber mit strohfeuerartigem Interesse verfolgt, und ich fürchte, dass wirklich eher äußere Prozesse der Veränderung dazu führen, dass die Veränderungslosigkeit ein solches Charisma entwickeln konnte. Es ist glanzlos. Es wird von glanzlosen Repräsentanten besetzt. Das Personal dazu ist entsprechend. Ein Personal, dass nur noch zu sagen braucht: Sie kennen mich. Ich bin ich. Dafür stehe ich mit meinem guten Namen. Das ist Tautologie. Die Tautologie ist die letzte Kunstform dieser Zeit. Also zu sagen: Erwarten Sie nichts. Das ist eigentlich der Endpunkt einer bestimmten Form fatalistischer Entwicklung.« Ich schaue auf die Uhr. Es ist fünf vor 12 Uhr. Während die letzten Sätze noch in mir nachhallen, verabschiedet sich Roger Willemsen überaus liebenswert und mit überdurchschnittlich kräftigem Händedruck, nimmt seinen Koffer und eilt energisch zum Checkout und zu seinem nächsten Termin.

Risiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig abhanden gekommen sind und unsere Sehnsüchte in die Irre führen. Ein schlau-präzises und gespenstisch-surreales Porträt unserer Gegenwart.