Im Fernsehen läuft eine Doku über den sogenannten IS. Die Doku eröffnet mit einem Ausschnitt aus dem hinlänglich bekannten und im Internet verbreiteten Propagandavideo, das die Enthauptung eines Mannes zeigt. Die Doku-Macher hinterlegen den Ausschnitt mit Musik, die Angst machen soll. Der Ausschnitt endet am Höhepunkt der Musik in dem Moment, in welchem James Foley das Messer an die Kehle gesetzt wird. Ich schreibe den Doku-Machern umgehend eine Email über die Kundendienst-Maske der Sendestation. So geht das nicht. Ich schreibe, dass das so nicht geht. Dass man dieses Video nicht unkommentiert als Doku-Opener verwenden darf. Ohne Rahmung, ohne – von mir aus – Laufschrift »Propagandavideo« darüber. Und vor allem ohne Verpixelung des Gesichtes James Foleys. Ich sehe das Gesicht von James Foley, und ich frage mich, was er fühlt. Ich kann in seinem unverpixelten Gesicht nicht lesen. Ich kann nichts erkennen. Ich frage mich, ob er Angst hat, ob er weiß, was geschehen wird, ob er noch Hoffnung hat – die Pfarrlektorin sprach auch von der Hoffnung, eines ihrer drei Wörter – oder ob er längst aufgegeben hat, ob das, was ich nicht lesen kann in seinem Gesicht, eine dissoziative Reaktion auf das in wenigen Augenblicken geschehende Unvorstellbare ist oder drogeninduzierte Apathie. Ich frage mich, was haben sie dir gegeben, James Foley. Und ich schaue auf die Hand, die das Messer hält und frage mich, warum zitterst du nicht mal. Und warum darfst du eine Maske tragen, und James Foleys Gesicht wird nicht mal verpixelt. Das schreibe ich den Doku-Machern. Und dass sie vielleicht mal überlegen könnten, wie sie ihre Doku gestalten würden, wäre James Foley ihr Bruder. Das war ein rhetorischer Untergriff.
Ich musste nach Argentinien fliegen. Aus beruflichen Gründen. Ich habe Reiseangst. Schon seit Jahren. Ich bin herausgefordert. Zu reisen fordert mich heraus. Ich bin ein schlechter Reisender. Ich kann es nicht. Ich ziehe keinen Lustgewinn daraus. Das trifft auf Urlaubs- und Dienstreisen gleichermaßen zu. Ich habe Angst vor dem Unvorhersehbaren, Unkontrollierbaren, erkläre ich mir, oder vor etwas anderem, das sich nicht erklären lässt. Man weiß es nicht. Auch die Therapeutin nicht. Für Argentinien hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt. Der Papst ist aus Argentinien. Ich würde, dachte ich, in dieser Stadt der kolportiert höchsten Dichte an Psychoanalytikern weltweit Türschilder sammeln. Bilder von Analytiker-Türschildern. Fotos mit Analytikerinnen-Namen mit meiner Kamera schießen und Steak essen. Analyse und Rindfleisch. So war mein Plan.
Der Doku-Macher schreibt zurück. Er dankt freundlich für mein Feedback. Mein aufmerksames Schauen und mein waches Denken. Es sei ein Geschenk für jeden Filmemacher ein so aufmerksames und waches Publikum zu finden wie hier nun in diesem Fall im Speziellen mich. Ich erlebe den Dank als Herablassung. Meine Empörung und mein Zorn werden in Wachheit und Aufmerksamkeit zähmend uminterpretiert. Meine Gefühle in Wahrnehmungskompetenz. Ich werde belehrt, es gäbe überall und andauernd Gewalt auf der Welt. Man fragt mich geschickt und natürlich nur rhetorisch, ob wir – raffiniert eingesetzter Plural! – uns nicht ins Fäustchen lügen, würden wir die Gewalt nicht zeigen wollen, weil ist sie doch schrecklicher Teil dieser Welt. Ich schreibe zurück, dass ich nicht von der Gewalt sondern der Art ihrer Darstellung gesprochen hätte. Und noch einiges mehr schreibe ich. Ich erhalte abermals dankende Antwort und antworte meinerseits nicht mehr.
Ich bin in Argentinien und habe einen Angsttraum. Ich arbeite an einem neuen Stück. Ich lese über die Tudors. Man hackt Köpfe ab. Der Traum spielt in einem Folterkerker. Ich erinnere mich nicht mehr. Ich fotografiere kein einziges Analytikerschild und bekomme auch keines zu Gesicht. Ich esse zweimal Steak.
Zuhause werde ich gefragt, wo meine Trauer sei. Wir haben Großmutter begraben, erzähle ich. Ich weine aus Zorn. Das hat mit den religiösen Subsummierungs-Begriffen der Pfarrlektorin zu tun. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Und weiß auch die Therapeutin nicht. Oder sagt es nicht. Der Papst ist Argentinier. Meine Trauer ist da, sage ich. Sie ist immer da. Und auch der Rest. Alles andere. Es ist viel Platz. In den Menschen ist viel Platz. Für die Trauer und den Zorn und alles dazwischen, all den Rest dazwischen. Und für das Mitgefühl und das rasende Zerstören-Wollen. Für alles Widersprüchliche. Für alle Extreme. Und zur gleichen Zeit. Der Mensch ist der Ort des Widersprüchlichen überhaupt. Das möchte ich sagen. Aber es ist keine Zeit dafür. Eine Einheit in der Praxis hat nur 50 Minuten. Das möchte ich auch der Pfarrlektorin mit ihren drei Begriffen zur Zusammenfassung eines Menschenlebens sagen. Und den Doku-Machern. Und vielleicht den Analytikern und Analytikerinnen in Argentinien, deren Türschilder ich nicht kenne und ihre Namen nicht, so sie es nicht ohnehin schon wissen. Bestimmt wissen sie es. Vielleicht sind sie die einzigen, die es wissen. Aber ein Wissen ist das nicht. Eine Praxis. Ob sie vorkommt in den Praxisräumen der argentinischen Therapeutin oder nicht, in den Schneideräumen der Sendeanstalten oder den Grabesreden der Pfarrlektorinnen oder des barocken Pfaffen, von dem ich hier noch nicht gesprochen habe. Die Tudors verachten den Papst. Ich möchte es sagen. Ich will eine Praxis der Widersprüche, die keine Dialektik und kein religiöses Dreierwort aufzulösen vermag. Weil es nichts aufzulösen gibt. Weil das die Unauflösbarkeit schlechthin ist. Ich will eine Praxis der komplexen Gefühle. Der Ambivalenz ohne Aufhebung. Wir müssen – raffiniert eingesetzter Plural! – zugleich traurig und zornig sein können und dürfen. Und eine Sprache dafür finden und genau das begreifen. Und wir müssen die gleiche Ambivalenz auch in den anderen Menschen verortet denken. Auch wenn sie eine Maske tragen. Kein Mensch hat verdient so zu sterben wie James Foley gestorben ist. Und kein Mensch hat es verdient zum Mörder zu werden. Geschwisterliches Mitgefühl mit James Foley und den vielen, vielen anderen, ob wir ihre Namen kennen oder nicht! Und aber auch – so schrecklich das klingt, es ist notwendig! – zorniges, rasendes Mitgefühl mit den Mördern. Mitgefühl mit Foleys Familie und Mitgefühl mit den Familien seiner Mörder. Familien von Opfern und Tätern sind wir und wir sind alle traurig und zornig und zur gleichen Zeit. Die Gesprächsrunden im Fernsehen und die Expertinnen im Radio fragen, wie es sein kann, dass junge Menschen aus dem Westen in den Krieg ziehen für diesen sogenannten IS und riskieren, dort in diesem Krieg zu sterben. Und ich frage, müssen wir nicht in gleicher Weise und noch dringender als das fragen, wie es sein kann, dass junge Menschen zu Mördern zu werden bereit sind oder wären? So geschickt rhetorisch frage ich wie der Doku-Macher. Und ich meine natürlich, ja!, wir müssen. Weil es falsch und zu kurz gedacht ist, dass das eigene Leben das einzige, höchste Gut wäre. Als gäbe es nichts Schlimmeres, das man verlieren könnte, als eben dieses eigene Leben. Als ließe sich aus der Vorstellung des eigenen Todes kein Lustgewinn ziehen, zumal als Heranwachsender. Man kennt das doch aus dem eigenen Heranwachsen. Man kennt das doch. Der rasende Zorn wendet sich schnell gegen das eigene Selbst. Und sei es nur in der Phantasie. Die Angst vor der eigenen Sterblichkeit kommt viel später im Leben, falls man gesund ist. Sie kommt mit den Jahren. Was also, wenn das eigene Leben nicht das höchste Gut ist? Ist es das Leben des Nebenmenschen? Ist die Verweigerung aktiv schuldig zu werden am Untergang des anderen ein höchstes Gut? Oder kann die westliche Welt tatsächlich nichts Schlimmeres denken als den eigenen Tod? Vieles spricht dafür, dass es sich genau so verhält. Erst vor wenigen Tagen, nach Veröffentlichung des Berichtes über Folterpraktiken der CIA im Krieg gegen den Terror, bezeichnete Ex-Präsident Bush junior die CIA-Folterer, die Praktiker der sogenannten erweiterten Verhörmethoden, als Patrioten. Tatsächlich. Diesem Denken graut nur vor dem eigenen Tod. Nicht aber vor der Vernichtung, dem Untergang des anderen. Der Nebenmensch hat als Empathie auslösendes Geschöpf schon längst ausgespielt. Empathie weckt nur noch die Vorstellung des eigenen Todes. Dieses Denken ist Ambivalenz-feindlich und daher Menschen- und Friedens-feindlich. Es hat vor der undialektisierbaren Komplexität der menschlichen Gefühle schon lange kapituliert. Es ist, wenn auch auf andere Weise, so antipluralistisch wie das Denken, gegen das es sich zu wenden meint.
Völlig frei von rhetorischer Raffinesse muss sie sein, diese Praxis, die wir brauchen, die die Gegensätzlichkeit der Gefühle nicht zugunsten eines einzigen aufzulösen versucht. Wir brauchen Modelle und Ermutigungen für die lebbare Gleichzeitigkeit des Ambivalenten ohne Aussicht auf Aufhebung nach einer polaren Seite hin. Weil gerade das menschlich ist. Weil der Kurzschluss ein tierischer Reflex ist. Und wir müssen eingreifen in die medialen und terroristisch-propagandistischen Bildmaschinen und müssen ihre Deutungshoheit über die vermeintliche Nicht-Komplexität der Dinge, der Menschen und der Gefühle brechen. Wir müssen verpixeln, rahmen, Laufschriften und Off-Stimmen erfinden, die nicht aufhören zu bedeuten, dass der andere Mensch – jeder und jede ausnahmslos und alle gleich und zur gleichen Zeit – ein menschliches Wesen ist und als solches ständig gefährdet und bedroht, von Folter, Leid und Tod, und dass sein oder ihr Leben zu schonen ist, selbst wenn das eigene Leben diesen Anspruch nicht zu stellen scheint.
Wir haben Großmutter beerdigt. Wir verfassten eine Fürbitte. Wir wollten der Opfer von Verfolgung, Folter, Diskriminierung und Vertreibung gedenken. Es ist uns ein Fehler unterlaufen. Der Täter gedachten wir nämlich nicht.

Endlich: Sechs Stücke des wortgewaltigen Dramatikers Ewald Palmetshofer in einem Band! Von ›wohnen. unter glas‹ bis zu seinem neuesten Theatertext ›die unverheiratete‹ stellt er „seine enorme Sprachkraft, sein vielschichtiges, sezierendes und provozierendes Denken unter Beweis“ (nachtkritik).
Inhalt: ›wohnen. unter glas‹, ›hamlet ist tot. keine schwerkraft‹, ›faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete‹, ›tier. man wird doch bitte unterschicht‹, ›räuber.schuldengenital‹, ›die unverheiratete‹.