Eine Gratulation an J. M. Coetzee zum fünfundsiebzigsten Geburtstag
Ich hatte immer gehofft, nicht einer der Goldfische zu werden. Als J. M. Coetzees Figur Elizabeth Costello, die australische Schriftstellerin und in die Öffentlichkeit gedrängte Intellektuelle, nach den USA reist, um einen Preis entgegenzunehmen und einen Vortrag zu halten, wird sie von einer jungen Frau chauffiert und hofiert – und mit Fragen behelligt: »Was halten Sie von A. S. Byatt, Ms Costello?« – »Was halten Sie von Doris Lessing, Ms Costello?« Costellos Sohn John reflektiert trocken über diese halb anheischige, halb anrüchige Fragerei: »Seine Mutter hat einen Ausdruck für solche Leute. Sie nennt sie die Goldfische. Man meint, sie seien klein und harmlos, sagt sie, weil jeder von ihnen nur ein klitzekleines Fleischbröckchen will, bloß ein Viertelmilligrämmchen.« Jene Menschen, wie ich, die nicht nur durchlesene Nächte, sondern auch ihre Tage am Schreibtisch mit Coetzees Werken verbringen, sind vielleicht nichts anderes als eben solche Goldfische.
Seit über zehn Jahren lese ich die Texte von J. M. Coetzee, nehme sie in mich auf, folge ihnen auf ihren Denkpfaden, arbeite mich durch ihre äußeren und inneren Landschaften, schlinge ihre Worte durch meinen Kopf und lebe mit ihnen. Kaum ein Tag ist seitdem vergangen, dass ich nicht an irgendein Viertelmilligrämmchen dieses unvergleichlichen Oeuvres denken musste: Von dem Staub, den Michael K im Waisenhaus aus einem Kissen klopft, bis die Staubteilchen in der Sonne tanzen und glitzern; zu dem Moment, da der Schnee beginnt zu fallen durch die Steppe von ›Warten auf die Barbaren‹; über das klickende Geräusch, das die Pfötchen eines Silberfuchswelpen auf den Dielenbrettern im Haus des Magistrats machen; zu dem Bonbonpapierchen, das der junge John in ›Der Junge‹ aus einem Busfenster an die kalte Luft über einem Bergpass füttert und zusieht wie es verschwindet, um seine Mutter dann zu fragen: »Was wird aus ihm?«; bis zu jenem reizenden Moment, da der jugendliche John in ›Die jungen Jahre‹ Knoblauchsalz über aufgewärmte Fischstäbchen streut, um sich mit der provenzalischen Diät seines literarischen Vorbilds Ford Madox Ford auch die Ford’sche Kunst zuzuführen oder in sich aufzuwecken.
Von den ersten Zeilen an, die ich von Coetzee las – es war zuerst jenes Buch ›Die jungen Jahre‹ – wusste ich, dieser Autor wird mich nicht mehr verlassen. Ich wollte über sein Werk reden, reflektieren, darüber schreiben und es immer bei mir haben. Und wie die Leser in Ray Bradburys ›Fahrenheit 451‹, die das literarische Erbe ihrer Zeit vor den Flammen durchs Auswendiglernen retten, wusste ich, es würde mir nur gelingen, Coetzee immer bei mir zu haben, indem ich sein Werk in mir trüge, es mit manischer Begierde in mich aufnähme, in mein Leben einbaute. Und im Laufe dieses Prozesses habe ich nicht nur sehr viel über das vielleicht eigensinnigste, vielfältigste und zugleich makelloseste Oeuvre der Gegenwartsliteratur gelernt, sondern über die Literatur an sich, die Philosophie und die Kunst, über Musik und Film und über mich selbst, über mein Leben und meine Zeit.
Als ich begann, eine Dissertation über Coetzees Werke zu schreiben, wusste ich erst nicht, warum ich das unbedingt wollte, denn ich fürchtete, ich könne mir die überschwängliche Begeisterung an diesem erlesenen Oeuvre kaputtanalysieren durch zu viel Ausdeutung, ich könne mit zu viel Klarheit den Schmetterling zerschneiden. Coetzee sagte einmal, eine zu deutliche Ausprägung der Selbstgewissheit darüber, warum man etwas tut, sei vielleicht wie ein grelles Blendwerk, in dessen durchleuchtendem Glanz es unmöglich sei, noch arbeiten zu können. Aber das Gegenteil war mein Fall. Das tiefe Verschmelzen mit Coetzees Welten hat mir viel mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Und genau das ist es, was mich bis heute daran fesselt. Ich habe gelernt, mit ernster, gelassener und ausgelassener Freude und Faszination zu lesen, mich einzulassen auf ein verflochtenes und verschachteltes Werk, es sich langsam in mir entfalten zu lassen wie die japanischen Papierstückchen, die in einer Wasserschale zu Blumen und Häusern und Figuren sich ausbreiten in der Beschreibung von Prousts Marcel, und die genauso überraschend und umwerfend sind.
Da ist zuallererst die geschliffene Genauigkeit von Coetzees Stil, die aber zu jeder Zeit auszubrechen vermag ins Improvisatorische oder Spielerische, ganz wie die Musik Bachs, die Coetzee und einige seiner Figuren so sehr schätzen. Und was für Figuren sie sind! Es ist, als starrten sie den Lesern direkt ins Gesicht, direkt ins Leben; sie sind voller Komplexität und Beschädigung und Besonderheit, wie die Menschen, die von ihnen lesen. Ob der trauernde Dostojewskij, der aus einem Exil nach Petersburg zurückkehrt, um seinen verunglückten Stiefsohn ein letztes Mal zu sehen und in die Höllenkreise einer Gruppe anarchistischer Revolutionäre gerät, aber diese Stadt des toten Sohnes nicht verlassen kann; ob die alternde Elizabeth Costello, in die man sich einfühlt, sie auch bedauert, wie sie angefeindet wird, dafür dass sie anders denkt als die anderen, in ihren »weißen Schuhen, an denen nichts falsch ist, die sie aber ein wenig wie Daisy Duck aussehen lassen«; oder der Professor David Lurie in ›Schande‹, den man erst abstoßend findet für das, was er tut und schließlich nicht mehr gehen lassen kann, weil er gehen lässt, was ihm an sein unbehütetes Herz gewachsen ist.
Warum das Werk dieses Autors mir über den endlosen Bibliothekshallen unserer größten Literatur steht, hängt unmittelbar zusammen mit einer Sprache, die an Kafkas Klarheit heranreicht – denn Coetzee lag falsch, als er einmal sagte, er sei es als Schriftsteller nicht Wert, Kafkas Schuhe zuzuschnüren – und mit dieser präzisen Sprache im Zusammenspiel mit undurchdringlichen Lebenswelten, mit Fragen, die, von den Texten unbeantwortet, in den Leseköpfen weiterwirken und mit verheerender Gewalt, die Coetzees Bücher in vermeintlich einfacher Deutlichkeit ausbreiten oder andeuten und selbst zu ethischen Fragen machen. In Coetzees Werken bis zu seiner Auswanderung nach Australien ist die Gewalt des Apartheid-Regimes und die Schönheit der südafrikanischen Landschaft ein grausiges Janusgeschöpf, in dessen zwittriger Ausformung die bestialischen Auswüchse der Kolonisierung abzulesen bleiben. Coetzees Texte blicken auf beides, obschon das Schreckliche der Unterdrückungsregierung bisweilen den Blick ablenken mag von der Schönheit der Natur, des Lichts, der Klänge und Düfte dieses Erdenflecks an der untersten Spitze des afrikanischen Kontinents. In Coetzees frühen Werken ist mithin die Landschaft gegerbt und karg, als wäre selbst die Natur erschöpft und verfrüht gealtert, als ächze sie unter der Bürde, Menschen beheimaten zu müssen, die ihre Mitmenschen schänden und das Geschenk des Lebens zertrampeln, so wie andere Insekten zertreten, diese »Wunderwerke der Schöpfung – Käfer, Würmer, Kakerlaken, Ameisen – jedes in seiner Art.« Aber immer scheint es auch, als werden die spezifischen Leiden einer Zeit und eines Ortes überwunden, um anzuwachsen zu einer Empörung über die Leiden, die alles Leben angeht, überall.
In ›Eiserne Zeit‹ – Coetzees vielleicht spezifisch südafrikanischstes Buch, was immer das bedeuten mag – steht die persönliche Krebserkrankung einer pensionierten Lehrerin in enger Verbindung zu den Geschwüren politischer Gewalt, die ihr Land durchwuchern. Am Fenster ihres Hauses stehend, beobachtet sie den Brand eines Townships, und in jener unvergleichlich aufrührenden, dabei unpathetischen Sprache, indigniert sich Mrs Curren – über die Gewalt, die von den Menschen und der Zeit über die Zeiten der Menschen gestürzt wird, und über den Egoismus des Schmerzes, der die Kranke umklammert: „Das Land ist am Schwelen, doch beim besten Willen der Welt kann ich das nur halb zur Kenntnis nehmen. Meine eigentliche Aufmerksamkeit ist ganz nach innen gerichtet, auf das Ding, das Wort, das Wort für das Ding, das sich unaufhaltsam breitmacht in meinem Körper. Eine schändliche Beschäftigung, so wie ein Banker in brennender Kleidung ein Witz ist, während ein brennender Bettler es nicht ist. Doch ich kann mir nicht helfen. ›Sieh mich an!‹ möchte ich Florence ins Gesicht schreien - ›Ich brenne auch.‹«
Auch ›Schande‹, vielleicht Coetzees bekanntester Roman, lässt den Leser die Gewalten und Enttäuschungen im Südafrika nach der Apartheid auf unerschrockene Weise bezeugen. Nach einem tragischen Zwischenfall, der zwei Menschen näher zusammenbringt als sie es seit langem waren und stärker kämpfen macht als vielleicht jemals zuvor, findet der Roman aber selbst in der hinterlassenen Asche nach Bränden der Umbarmherzigkeit etwas Trost und Hoffnung, durch ein wenig Güte und Barmherzigkeit – für heimatlose und verwahrloste Hunde. Vermehrt sind es die Tiere, denen in Coetzees späterem Werk eine liebevolle Aufmerksamkeit gewidmet wird, ob in Elizabeth Costellos Vorträgen über das Leben der Tiere und ihr Leben inmitten einer Welt aus Menschen, oder in ›Sommer des Lebens‹, wo ein junger John Coetzee sich fragt, ob die Paviane Südafrikas, wenn sie ihre Blicke von den Bergen die Weite entlang ins Herz des Landes schicken, von der selben Melancholie durchdrungen sind wie die Menschen. Doch auch in Coetzees früheren Werken waren es immer schon die Tiere, jene so oft Vernachlässigten der Literatur, die seine Texte belebten und von ihnen geschätzt wurden, obschon auf ganz andere Weise. Denn Coetzees Texte verwenden eine bestimmte Stilfigur auf besonders feinsinnige Weise, nämlich den metaphorischen Vergleich: den Tiervergleich. Durch diese leise Verschmelzung verschiedener Referenzrahmen nähert seine Sprache Menschen und Tiere einander an, vereint sie auf einer Ebene, die nicht mehr vom Menschen als Schöpfungsspitze regiert wird. Von Michael K heißt es einmal: »Er hustete und ein kleiner Schrei entfuhr ihm, wie von einem Käuzchen«. In einem Traum heißt es über Dostojewskij: »Den Hut scheint er verloren zu haben, aber in seinem schwarzen Anzug fühlt er sich wie eine Schildkröte, eine große alte Schildkröte in ihrem Element.« Und Paul Rayment in ›Zeitlupe‹ – dem vielleicht unterschätztesten Meisterwerk dieses Oeuvres, das nur aus Meisterwerken besteht – er »bedauert vieles, er ist voller Gedanken des Bedauerns, sie kommen allnächtlich zu ihm wie Vögel zu ihrer Schlafstätte.« So harmlos die Vergleiche sind, sie machen die Tiere zu den Bezugspunkten des Menschenlebens. Stilistisch, sprachlich betrachtet sind es die Menschen, die auf den Tieren beruhen, die ohne die Tiere nicht in ihrer Vielschichtigkeit erscheinen würden – nur gelingt es der Literatur, das viel zärtlicher und poetischer auszudrücken. Vielleicht ist es also gar nicht so schlimm, falls man doch mit einem Goldfisch verglichen würde.
Und dieser Goldfisch, so ich denn einer bin, schreckt zwar immer vor zu viel Pathos zurück und findet in einem sentimentalen Ende für einen Essays eher Grund zum Aufatmen, dass es jetzt gleich vorbei ist, als Grund zur Einladung weiterzudenken. Aber wie es in ›Zeitlupe‹ heißt: »Die Wahrheit, wenn sie denn gesprochen wird, wird im Geiste der Liebe gesprochen.« Und ein anderer Ton trifft jetzt nicht genau genug, was ich versuche in Worte zu bringen, wenn ich sagen will, dass das Kennenlernen der Werke von J. M. Coetzee mich befreit hat. Nicht metaphorisch, sondern ganz wörtlich: Ohne J. M. Coetzee wäre mir der, den ich »Ich« nenne, noch fremder als er mir ohnehin schon ist. Die Werke Coetzees verstehen das Problem des Ichs genau, wie man jeden Tag immer der Gleiche bleibt und sich irgendwann trotzdem alles verändert hat.
Vielleicht hätte ich mich nicht vor einen Zug geworfen, wenn ich Coetzees Bücher nicht gelesen hätte – obwohl die Jury da ja auch noch beraten könnte –, so steht eins aber ganz fest: Meine Beschäftigung mit dem Werk eines Autors seit mehr als einem Jahrzehnt hat seine Spuren in mein Leben gekerbt, hat mich arbeiten lassen und schreiben und denken lassen, und in meinen Gedanken sehe ich die Geister von Bildern aus diesen literarischen Welten, die aufflackern, als wären sie Teile meines eigenen Erinnerungskosmos geworden. Der Mensch, der ich heute bin, wäre ein anderer, hätte er nie Crusos Insel und Susan Bartons Reflexionen über sie kennen gelernt, hätte er nie mit Simón und David die fremde Stadt Novilla betreten. Es gäbe das, was ich heute »Ich« nenne, schlicht und einfach nicht – es wäre ein anderes Ich und diese Worte über dieses erlesene Oeuvre wären gehüllt in Weiße und Leere und Schweigen, es gäbe auch sie nicht. Deshalb geht dieses Ich nicht zu weit, wenn es sagt, J. M. Coetzee habe sein Leben gerettet. Auch wenn es eben ein Leben ist, so harmlos wie das eines Goldfisches.
Jan Wilm

J. M. Coetzees großer Roman ›Die Kindheit Jesu‹ ist ein Meteor voller Intensität, Überraschung und Schönheit. Emigration, Einsamkeit, das Rätsel einer Ankunft: In einem fremden Land finden sich ein Mann und ein Junge wieder, wo sie ohne Erinnerung ihr Leben neu erfinden müssen. Sie müssen nicht nur eine neue Sprache lernen, sondern auch dem Jungen eine Mutter suchen. - In einem dunklen Glas spiegelt J. M. Coetzee unsere Welt, so dass sich alles Nebensächliche unseres Umgangs verliert und die elementarsten Gesten sichtbar werden.