



Rescuing the Evidence ist nichts Außergewöhnliches für Mitarbeiter des USHMM. Seit seinem Bestehen konnte das Museum mehrere hundert Millionen Dokumente zur Geschichte des Holocaust sammeln, in erster Linie in Gestalt von Mikrofilmen, die auf der Basis von Kooperationsabkommen mit Archiven in über 40 Ländern produziert wurden. Aufgrund seines reichen Archivbestands, seiner Bibliothek mit über 105 000 Titeln und der Fachkenntnis seiner Mitarbeiter finden Forscher, die sich mit dem Holocaust befassen, am USHMM beste Arbeitsbedingungen vor. Zu den Kronjuwelen im Museumsarchiv gehören Originalquellen der Zeit in Gestalt von Tagebüchern und Briefen, in denen Juden ihre Ängste, Erfahrungen und Hoffnungen unter extremer Verfolgung dokumentierten. Aber der USHMM-Archivbestand bietet auch Originalmaterial der Täter, etwa in Gestalt von Fotoalben ehemaliger KZ-Aufseher, eines Tagebuchs von Heinrich Himmlers Ehefrau oder anderen Fundstücken, von denen viele nach dem Krieg in die USA gelangten.
Die Pfade, auf denen diese Quellen ins Museumsarchiv gelangen, sind oft verschlungen: Mehr als 15 Jahre hatte Henry Mayer nach den verschwundenen Teilen des Rosenberg-Tagebuchs gesucht, bis die Spur nach Wilmington führte. Als wir 1997 erstmals den Akten-Nachlass des 1993 gestorbenen Nürnberger Anklagevertreters Robert Kempner in seinem Haus in Lansdowne, Pennsylvania besichtigen konnten, hofften wir, die Schenkung des umfangreichen Bestands durch die Kempner-Erben an das USHMM würde rasch Klarheit über Umfang und Inhalt des Tagebuchs schaffen. Kleinere Teile davon waren bereits bekannt und nach Kriegsende auszugsweise veröffentlicht worden, doch zum Rest gab es nur Mutmaßungen. Entsprechend groß war unsere Enttäuschung, als sich 1997 in den ungeordneten Aktenbergen in Kempners Haus keine Spur des Tagebuchs finden ließ. Dabei blieb es bis zu jenem Tag im April 2013 in Wilmington.
Der Fall war schnell klar: kein Zweifel, hier handelte es sich um die Original-Tagebuchblätter für die Zeit von 1936 bis 1944 (ein gebundenes Tagebuch für den Zeitraum 1934/35 befindet sich seit Ende der Nürnberger Verfahren im US-Nationalarchiv). Im Dezember 2013 wurden sie offiziell dem USHMM übergeben und auf der Museumswebsite als Scans öffentlich gemacht. Für die Buchedition, die im April 2015 bei S. Fischer erschien, kooperierte die Forschungsabteilung am Mandel Center for Advanced Holocaust Studies des USHMM eng mit dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte. Die Zusammenarbeit mit Frank Bajohr gehört zu den positivsten Erfahrungen meiner rund 20-jährigen Tätigkeit am USHMM. Mit der Edition ging es uns vor allem darum, Rosenbergs Notizen in den Kontext der NS-Judenpolitik einzubetten und seine historische Bedeutung neu zu bewerten. Aus den Tagebuchaufzeichnungen und Zusatzdokumenten, die wir in den Band aufgenommen und ausführlich kommentiert haben, wird erkennbar, dass Rosenberg in der Übergangsphase von der Verfolgung zur Vernichtung vor dem Hintergrund des Unternehmens Barbarossa – nicht nur für den Massenmord an den Juden in der besetzten Sowjetunion, sondern auch beim Vollzug der »Endlösung« in weiten Teilen Europas – eine lange unterschätzte Schlüsselrolle spielte.
Doch explizit geht Rosenberg in seinem Tagebuch auf die mörderische Lösung der »Judenfrage«, wie sie sein Ostministerium und andere Instanzen seit 1941 exekutierten, kaum ein; erst aus der Rekonstruktion des breiteren Quellenzusammenhangs erschließt sich seine zentrale Funktion. Damit spiegelt die Edition das, was als gesicherte Erkenntnis der Holocaust-Forschung gelten kann und was ihr Doyen Raul Hilberg treffend als »Wesen des empirischen Vorhabens« beschrieben hat:
»Alle Ergebnisse befinden sich stets in einem Zwischenstadium, das man zu jeder Zeit ändern kann. […] Wohl ist die Historiographie auch eine Kunstform, die das Streben nach Vollendung fordert, aber die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar. Die unermüdliche Suche nach Erkenntnisgewinn geht weiter, und mag sie noch so aufwendig sein, damit nicht alles verloren geht und vergessen wird.«[1]
[1] Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Frankfurt am Main: S. Fischer 2002, S. 243.

Seit 1946 verschollen, wurden die Tagebücher des NSDAP-Reichsleiters Alfred Rosenberg erst 2013 aufgefunden. Hier liegen sie erstmals als Gesamtausgabe vor, ausführlich kommentiert von den renommierten Historikern Frank Bajohr(Zentrum für Holocaust-Studien, München) und Jürgen Matthäus (US Holocaust Memorial Museum, Washington). Rosenbergs Aufzeichnungen zeigen, dass seine Rolle bei der Vorbereitung und Umsetzung des Holocaust lange unterschätzt wurde. Schon früh einer der radikalsten Antisemiten, unterstützte er bis zuletzt die deutsche Vernichtungspolitik. Seine Notizen verdeutlichen neben seiner unbedingten Ergebenheit gegenüber Hitler die erbitterte Konkurrenz innerhalb der Funktionselite um den »Führer«, insbesondere die intime Feindschaft zwischen Rosenberg und Joseph Goebbels. Aus der Perspektive eines der Hauptverantwortlichen eröffnet dieses Schlüsseldokument neue, wichtige Einblicke in die vom NS-Regime erzeugte Gewaltdynamik.