Das räumliche Sehen erstreckt sich nicht nur auf die Breite des Panoramas, sondern auch auf dessen Tiefe. So sieht man, wie der britische Oberbefehlshaber General Douglas Haig am morgen vor dem Angriff spazieren geht, während seine Soldaten Gleise für die Truppenversorgung verlegen. Man erblickt tausende Freiwillige, die in langen Kolonnen begeistert Richtung Schützengraben marschieren, während im Hintergrund die britische Luftwaffe die deutschen Stellungen bombardiert. Wie sie in eine Wand aus Staub und Nacht hineinwandern, um im Morgengrauen aus dem Schützengraben zu steigen und ungeschützt ins Sperrfeuer der deutschen Maschinengewehre zu laufen. Tot oder verletzt bleiben unzählige auf dem Schlachtfeld zurück, erst Stunden oder Tage später werden sie in die Gräben zurückgezogen und hinter der Front gebracht, um dort notdürftig versorgt oder in Massengräbern verscharrt zu werden. Und während am Ende dieses Comicfrieses im Vordergrund die Holzkreuze in den Boden geschlagen werden, sieht man am Horizont schon die neuen Truppen, die diese barbarische Schlacht noch für vier weitere verlustreiche Monate lang austragen werden.
Das Ganze ist derart komplex, dass sich der Betrachter mehr als einmal im Gewimmel und Gewusel der Masse verliert und dankbar für das Begleitheft ist, in dem nicht nur der US-amerikanische Historiker Adam Hochschild eindrücklich die Ereignisse am 1. Juli 1916 an der Somme beschreibt, sondern man auch eine verkleinerte und kommentierte Variante des Panoramas findet.
Als Betrachter fühlt man sich – ob trotz oder wegen des Gefühls der Verlorenheit – unweigerlich in die Rolle des beobachtenden Mitläufers gedrängt, der erleben muss, wie abertausende Soldaten in diese mörderische Todesmaschine laufen. Die Schlacht an der Somme ist der Inbegriff des industrialisierten Mordens im Ersten Weltkrieg. Millionen Menschen sind im Granat- und Kugelhagel der Maschinen sowie den Gasangriffen umgekommen. Nicht umsonst schrieb Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch In Stahlgewittern davon, dass »der gewaltigste der Kriege« von der überragenden Bedeutung der Materie geprägt war: »Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet.« Sacco macht in seinem Weltkriegsleporello nicht nur diese Materialschlacht sichtbar, sondern zeigt, wie sich das Individuum in der Masse auflöst und kollektiv marschiert, stirbt und beerdigt.
Die Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der Neunten Kunst ist vor allem von dem französischen Zeichner Jacques Tardi geprägt. Wie kein anderer hat der Franzose dem im Schützengraben versinkenden Individuum ein Denkmal gesetzt. Seine Comics erzählen von dem unendlichen Leid, das dem Einzelnen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs widerfahren ist. Dass Tardi dabei stets an seinen Großvater denkt, führt dazu, dass Werke wie Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB, Grabenkrieg, oder Elender Krieg die Ereignisse stets aus einer individuellen Perspektive beschreiben.
Saccos Motivation ist eine andere. Er erinnert sich, wie in Australien am 25. April stets der Landung der australischen Truppen in Gallipolli gedacht wurde. Bei der Schlacht auf der türkischen Halbinsel kamen 100.000 Soldaten ums Leben, 250.000 wurden verletzt. Schon als Kind fand er diese Zahlen unbegreiflich. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass »so viele Menschen freiwillig darauf warten, zu sterben«, beschäftigt ihn bis heute. In seinem Weltkriegspanorama versucht er, eine Antwort darauf zu geben, indem er die Kriegsmaschinerie als Laufband vor dem Auge des Betrachters ablaufen lässt. »Die normale Reaktion des Tieres Mensch wäre, vor dem Maschinengewehr wegzulaufen. Aber die Masse zwingt dich unaufhaltsam, immer weiter zu marschieren und in die Kugeln hineinzulaufen.«
Sacco will sich nicht mit Tardi messen, viel zu sehr bewundert er ihn für seine Arbeiten. Der Franzose habe alles zum Ersten Weltkrieg gesagt, was es dazu zu sagen gäbe, er könne dem nichts mehr hinzufügen. Aus diesem Grund hat er vollkommen auf Wörter verzichtet. Sein Panorama ist ein lautloses Zeugnis des 1. Juli 1914, das in seiner nach vorne drängenden Komposition für sich spricht.
Ungewöhnlich ist die Außenperspektive. Normalerweise erzählt Sacco seine Geschichten aus den Blickwinkeln seiner Gesprächspartner und setzt aus den verschiedenen Stimmen, die er sammelt, ein Mosaik zusammen. Sein historischer Bilderbogen speist sich aus seiner journalistischen Herangehensweise. Zum einen ist er auch als Erzählung und nicht als Illustration angelegt. Zum anderen sind die Zeichnungen höchst detailliert ausgeführt, da sei der akkurate Journalist in ihm durchgekommen. Die Grundlage bildeten intensive Bildrecherchen im britischen Kriegsmuseum in London sowie zahlreiche Beschreibungen in der Literatur. »Ich versuche, Menschen und Objekte so genau wie möglich wiederzugeben, da ich der Ansicht bin, dass alles, was korrekt gezeichnet werden kann, auch korrekt gezeichnet werden sollte«, heißt es in Reportagen. Von seinem cartoonhaften Stil, in dem man seine Begeisterung für Robert Crumbs ironischen Stil wiedererkennt, weicht er dafür nicht ab. Seine Arbeiten brauchen diese Distanz zur Wirklichkeit, seine Geschichten in einem noch realistischeren Stil gezeichnet, wären nur schwer zu ertragen.
Die Anlehnung an Crumb tritt in seinem neuesten Werk BUMF Vol 1. I buggered the Kaiser! (demnächst mehr dazu an dieser Stelle) vielleicht noch deutlicher zutage. Er habe das Bedürfnis nach einem Genrewechsel verspürt, sein neuer Comic sei daher eine politische Satire geworden, fast obszön, etwas, das man noch nicht von ihm kenne. Bis sein neuer Comic in deutscher Übersetzung erscheint, bleiben seine Berichte von den Kriegsschauplätzen der vergangenen 20 Jahre sowie dieses Panorama des 1. Juli 1916. Gemeinsam zeigen sie, dass die Zahl der Kriegsopfer abgenommen hat, der Schmerz und der Kummer der Leidtragenden aber gleich geblieben ist. Und wir verstehen, was Sacco meint, wenn er sagt: »Für mich sind Vergangenheit und Gegenwart Teil der gleichen Sache.«
Joe Sacco: Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme
Leporello und Begleitheft im Schuber
Aus dem Englischen von Christoph Schuler
Edition Moderne 2014
24 Seiten. 35 Euro
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The Great War by Joe Sacco from WW Norton on Vimeo.
Ein kürzeres Porträt Saccos auf der Basis dieses Beitrags ist im Rolling Stone Magazin im August 2014 erschienen.
[…] Joe Sacco: Ein zeichnender Reporter | intellectures: Joe Sacco reist seit Jahren in die Krisenherde der Welt, um als Comicjournalist vom Schicksal der Menschen zu berichten. Mit »Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme« hat er ein historisches Panorama vorgelegt, das die Materialschlacht sichtbar macht und zeigt, wie sich das Individuum in der Masse auflöst. […]
[…] der Schlacht an der Somme im Ersten Weltkrieg eine historische Arbeit vorgelegt (hier gehts zu unserem damaligen Porträt mit Joe Sacco). Im Schweizer Tages Anzeiger erschien im September eine exklusive Comicreportage von Joe Sacco […]
[…] Jacques Tardi, dessen Arbeiten in die matschigen Todesgräben des Ersten Weltkriegs geführt haben, oder von Joe Sacco, der wie kein anderer nicht die Abgründe der gegenwärtigen Konflikte zeigt, längst eigene […]
[…] Werk ähnelt in mancher Hinsicht dem von Joe Sacco (hier gehts zum Interview mit Joe Sacco), der sich selbst als Comicjournalist bezeichnet. Wenn Sie Ihre dokumentarischen Arbeiten wie »Der […]