Nach der Lektüre der Kalo-Geschichte waren sich viele einig, dass dies das künstlerische Meisterwerk des Kanadiers sei. Vor wenigen Monaten ist nun eine »Geschichte aus dem Skizzenbuch des Zeichners „Seth“« erschienen, mit der es dem Kanadier gelungen ist, sein vorhergehendes Werk aus dem Palookaville-Kosmos zu übertreffen. Vom Glanz der alten Tage heißt seine Erzählung aus der »Blütezeit des kanadischen Cartoons«, für die er erneut den vermeintlich autobiografischen Ansatz wählt. Tatsächlich aber erzählt er einmal mehr eine vollkommen frei erfundene Geschichte.
Sie handelt von der Great Northern Brotherhood of Canadian Cartoonists, einer Bruderschaft der kanadischen Comiczeichner, die während des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebt hat. Diese Blütezeit lässt Seth wieder aufleben, indem er seine Leser durch das GNBCC-Verbindungshaus führt. In der Manier eines Museumsführers präsentiert er uns das Haus und erzählt die (Comic-)Geschichten hinter dessen Objekten: vom kunstvoll gestalteten Flachrelief über dem Eingang – »ein „Who is Who“ der kanadischen Cartoon-Figuren« – über die Eingangshalle mit den von drei Gründungsmitgliedern gestalteten Wandgemälden sowie die Fotowand in der Haupthalle bis hin zum vereinseigenen Wappen und den Trophäen der Bruderschaft.
Seths Einfallsreichtum und Fantasie ist geradezu erschlagend. Er hat sich nicht nur die einzelnen Geschichten für seinen fiktiven Museumsrundgang ausgedacht, sondern zu jedem Mitglied der Bruderschaft, das hier Erwähnung findet, noch einen eigenen Zeichenstil gefunden und »imitiert«. Darüber hinaus finden die typischen Sorgen, die die Zeit und die Umgebung Comicszene mit sich bringen, ihren Niederschlag. Frauen seien »natürlich leider« immer unterrepräsentiert gewesen, die Partys früher besser als später und die innere Entwicklung habe zunehmend mafiotische Züge angenommen. Und wer angesichts all des Glanzes meint, Comiczeichner seien bessere Menschen, der habe sich getäuscht: Als Künstler hätten sich natürlich alle nicht nur ihre Talente, sondern auch ihre Allüren bewahrt.
Diese prachtvolle Erzählung lesend kommt einem Loriots frappierende Erkenntnis in den Sinn, dass früher mehr Lametta war; zumindest lässt Seth diesen Eindruck entstehen. Der Kanadier zieht in diesem Comic alle Register. Er überrascht nahezu auf jeder Seite, sei es auf der Text- oder der Bildebene oder eben auf beiden. Seth beweist sich als wahrer Meister seines Fachs – nicht umsonst erhielt er für die grafische Gestaltung der Peanuts-Gesamtausgabe einen Eisner-Award. Hier nun sorgen sein grafisches Gespür und seine enorme erzählerische Souveränität dafür, dass die zeichnerische Vielfalt nicht in Willkür kippt. Bei diesem Comic stimmt vom ersten Strich bis zum letzten Satz einfach alles.

Eine Szene verdeutlicht die spielerische Virtuosität des Zeichners. Bei der virtuellen Besichtigung des Archivs der Bruderschaft beklagt der Erzähler Folgendes: »Wenn ich doch nur ein Fach öffnen und sie selber staunen lassen könnte“. Dieses Fach hält der Leser in seinen Händen, Seth selbst hat es gezeichnet. Sobald man es aufschlägt und liest, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Nachtrag: Am Ende dieser dem kanadischen Comiczeichner Joe Matt gewidmeten Geschichte gesteht der Erzähler, dass die Great Northern Brotherhood of Canadian Cartoonists erstunken und erlogen ist und es in Kanada nie eine besondere Blütezeit der Neunten Kunst gegeben hat. Offen gesagt war es auch viel zu schön, um wahr zu sein. Schade ist es dennoch.
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