Ich hatte beim Lesen Ihres Buches immer wieder das Gefühl, das alle Beteiligten zwar immer wieder eine Art Hilfesystem schaffen, dem es aber nicht gelingt, die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge zu beseitigen.
Ja, die internationale Hilfe ist auf Kurzfristigkeit ausgelegt. Selbst die Finanzierung von Dadaab als Flüchtlingslager ist als Nothilfemaßnahme angelegt, das heißt, alle sechs Monate muss die Finanzierung durch die UN wieder neu geklärt werden. Der Aufruf, den sie dann startet, steht in einer Art Hilfekonkurrenz zu den Notrufen aus Syrien und zuvor aus Haiti, aus den vom Tsunami getroffenen Regionen und all den anderen Krisenregionen. Sinnvoll wäre stattdessen eine Art Stadtplanung, wie sie jede Metropole vornimmt, mit einem Haushalt, der dann nach den Notwendigkeiten für Transport, Bildung, Infrastruktur usw. aufgeteilt wird. So aber existiert nur das Nothilfebudget, dass alle sechs Monate erneuert werden muss und in dem der Gesundheitsetat die einzige konstante Größe ist. Das alles ist sicherlich falsch, aber nicht, weil es schlecht organisiert ist, sondern weil nicht die richtigen politischen Entscheidungen getroffen werden.
Ein verlängerter Arm der politischen Mächte sind auch die Sicherheitskräfte, die im Flüchtlingslager, in Kenia und auch im regionalen, grenzüberschreitenden Konflikt eine besondere Rolle einnehmen.
Als ich die Situation in Somalia und in Dadaab noch aus Nairobi beobachtet habe, erschien mir das ganze als Teil des Antiterrorkampfes der USA. Als ich aber im Flüchtlingscamp war und Nishan begleitet habe, der als Träger im Markt arbeitet und Nacht für Nacht Zuckerrohr von großen LKWs ablädt, habe ich einen anderen Blick auf die Dinge erhalten. Der Zucker ist von der kenianischen Armee illegal aus Somalia eingeführt. Das ist ein gigantisches Geschäft, weshalb ich mehr und mehr der Ansicht bin, dass Kenia in Somalia eingefallen ist, um sich diesen Markt zu sichern. Inzwischen profitiert selbst die islamistische Miliz Al Shabaab in dem Geschäft, weshalb ich inzwischen der Ansicht bin, dass der Krieg gegen den Terror vor allem wirtschaftliche Gründe hat.
Das ganze Gerede über Terrorismus ist aufgeblasenes Geschwätz und wird eingesetzt, um einen permanenten Alarmzustand herbeizuführen.
Im dritten Teil Ihres Buches zeigen Sie, wie Al Shabaab das Leben in Dadaab beeinflusst, weil sie in der Flüchtlingsmetropole längst Fuß gefasst hat. Wie groß ist Ihrer Ansicht nach der Einfluss der Miliz auf das Leben der Menschen in Dadaab?
Als Kenia in Somalia einmarschierte, gab es im Camp Vergeltungsaktionen. Es gab Bombenanschläge und ein Freund von mir, der mit der UN arbeitete, wurde persönlich bedroht. Danach aber entspannte sich die Situation, der Einfluss von Al Shabaab auf das Leben im Camp ist sehr gering. Kenia behauptet, das Lager sei voller Terroristen. Das ist aber Unsinn, nicht umsonst kommen solche Aussagen von denen, die hinter der Miliz her sind. Man muss sich auch nur die Anlage des Lagers vorstellen, dann wird schnell klar, dass Fremde in Dadaab nur schwer untertauchen oder unbeobachtet einen Terroranschlag vorbereiten können. Die Stadt ist überwiegend in Blöcken angelegt, dazwischen weite Straßen, auf denen man alles sieht. Im Grunde kennen sich auch alle. Außerdem ist die Stadt recht gut überwacht, die Atmosphäre ist angesichts der Lebensumstände sehr friedlich. Das ganze Gerede über Terrorismus ist aufgeblasenes Geschwätz und wird eingesetzt, um einen permanenten Alarmzustand herbeizuführen.
Was sind die Gründe der kenianischen Regierung, dieses Argument dennoch immer wieder anzubringen. Sie geht sogar so weit, das Camp wegen der Terrorgefahr schließen zu wollen.
Weil die EU ein Abkommen mit der Türkei geschlossen und dem Land sechs Milliarden Euro in Aussicht gestellt hat, um die Flüchtlinge von Europas Grenzen fernzuhalten. Kenia hingegen bekommt gerade einmal 150 Millionen US-Dollar für sein Engagement. Sie wollen einfach mehr Geld.
Ist hier ein Markt entstanden?
Es ist eine Art Auktion, wir befinden uns in einem Bieterwettbewerb. Eine Woche bevor Kenia ankündigte, Dadaab schließen zu wollen, hatte der Niger etwas mehr als eine Milliarde Euro verlangt, um Migranten an der Weiterreise nach Libyen zu hindern. Das Ganze wird ein perfides und ein sehr teures Spiel.
Was würde es bedeuten, wenn Kenia Dadaab räumen und schließen würde. Kann das überhaupt funktionieren?
Stellen Sie sich vor, man würde Frankfurt am Main dem Erdboden gleichmachen wollen. Ich kann mir das nicht vorstellen, niemand kann sich das vorstellen. Kenia hat das zwar angedroht, ich habe aber keine Vorstellung davon, wie man das im Ernstfall machen will. Was ich aber befürchte ist, dass die kenianische Regierung, weil sie das Camp nicht auf somalisches Gebiet verlegen kann, andere Maßnahmen ergreift. Dass sie etwa die Wasserversorgung kappt oder das Lager von der Nahrungsversorgung abriegelt. Das wäre ein enormes Verbrechen, eine Art Genozid, aber das ist die einzige realistische Option, das Lager in relativ kurzer Zeit zu schließen.
Beim Lesen bin ich auf zahlreiche Teufelskreise im System Dadaab gestoßen. Da ist etwa die Ankunft von Al Shabaab im Camp was zu einer Erhöhung der Militärpräsenz und Gewalt führt, was wiederum der islamistischen Miliz Zulauf verschafft. Oder die Förderung der Frauen in den Hilfsstrukturen der internationalen Gemeinschaft, die dazu führt, das Männer zuhause bleiben, in der traditionellen Gesellschaft einen Ehrverlust erleiden und schließlich zu häuslicher Gewalt greifen, die im Lager zunimmt. Sie beschreiben diese Systeme und viele mehr in Ihrem Buch. Sehen Sie einen Weg aus diesen Teufelskreisen heraus?
Ich glaube nicht, dass Teufelskreise oder, nennen wir es weniger dramatisch, die Ironie des Lebens etwas ist, dass speziell auf Flüchtlingslager zutrifft. Solche Systeme gibt es überall, und die Tragweite dieser Systeme ist sehr viel dramatischer, wenn wir uns den Antiterrorkampf des Westens oder die europäische Migrationspolitik anschauen. Das Ergebnis des Gipfeltreffens von Valetta im letzten Jahr etwa lautet, dass die EU afrikanischen Despoten und Diktatoren viel Geld dafür gibt, um die jungen Migranten von den europäischen Außengrenzen wegzuhalten. Ich spreche hier von den Präsidenten von Äthiopien, Eritrea, Sudan, Tschad, Niger oder Libyen, die nach Vorstellungen der EU den Menschen Perspektiven in ihren Ländern schaffen sollen, die sie hassen, nämlich den jungen Menschen. Die EU schließt ihre Abkommen mit den Menschen, die das Problem darstellen. Das finde ich deutlich dramatischer. Aber so ist das in der Politik, wenn kurzfristige Handlungsbereitschaft auf einen allgemeinen Mengel an Menschlichkeit trifft.
Die oft zitierten europäischen Werte beinhalten doch nicht nur Menschenrechte, Meinungs- und Glaubensfreiheit usw., sondern auch, Menschen wie Menschen zu behandeln und ihnen auch die Möglichkeit zu geben, wie Menschen leben zu können.
Sie haben in Dadaab viel Elend und Perspektivlosigkeit gesehen. Was löst der Rechtsruck in Europa in Ihnen aus?
Ich werde sehr traurig, auch wenn ich, als ich nach Deutschland kam, ein wenig Hoffnung spürte. Ich treffe hier auf eine politisierte Gesellschaft, in der auch Empathie, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft einen Platz hat. Tatsächlich lassen mich aber die Haltung der britischen Regierung und der Europäischen Union verzweifeln. Wissen Sie, die kenianische Reaktion auf die Flüchtlinge, der Fremdenhass, die Repression, die kann ich verstehen. Kenia ist ein armes Land, die Politik basiert auf Stammesdenken, jeder ist sich da irgendwie selbst der nächste. Aber Europas Selbstverständnis verlangt doch etwas ganz anderes, als das, was gerade passiert. Die oft zitierten europäischen Werte beinhalten doch nicht nur Menschenrechte, Meinungs- und Glaubensfreiheit usw., sondern auch, Menschen wie Menschen zu behandeln und ihnen auch die Möglichkeit zu geben, wie Menschen leben zu können. Meinungsumfragen in Großbritannien etwa zeigen, dass die Menschen bereit wären, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Aber wir haben eine Regierung, die eine Politik von gestern betreibt. Ich fühle mich unterdrückt, weil mir als Bürger verwehrt wird, zu helfen, wie ich es für richtig halte. Dieses Gefühl wiederum politisiert mich, macht mich aktiv, mich zu engagieren. Mich ermuntert dann das, was ich hier in Deutschland sehe. Oder nehmen Sie Kanada. Dort hat jeder Staatsbürger das Recht, andere Menschen einzuladen, auch Kanadier zu werden. Dort kann also jeder Bürger so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie er finanzieren kann und sie einladen, nach Kanada zu kommen und sich in die Gesellschaft einzugliedern. Das ist doch ein wundervolles Recht, finden Sie nicht?
Ist die Idee eines Nationalstaats in der globalisierten Weltgesellschaft nicht ohnehin ein Hirngespinst?
Ich glaube nicht, dass sich das Konzept des Nationalstaats in de nächsten 100 Jahren halten wird. Mehr und mehr Menschen werden sich in Bewegung setzen, wir müssen uns also etwas neues einfallen lassen. Deshalb sind übrigens die Idee eines geeinten Europas und der aktuelle Kampf darum so wichtig. Wenn wir diesen Kampf verlieren und statt nach internationalen Lösungen wieder zu nationalem Kleinklein greifen, dann werden wir auf Herausforderungen wie den Klimawandel oder die internationale Migration keine adäquaten Antworten finden. Die Antworten, die wir dann finden, werden mehr Gewalt bringen, weil sich dann jeder selbst der nächste sein wird. Die so genannte Flüchtlingskrise in Europa betrifft in meinen Augen die Seele Europas und ist wegweisend dafür, ob wir Hoffnung haben sollten oder nicht, wenn es darum geht, dass die Menschheit die von ihr geschaffenen Probleme löst.
Ben Rawlence: Stadt der Verlorenen
Aus dem Englischen von Bettina Münch & Kathrin Razum
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