Man wünschte sich, der Bolschewismus wäre nur eine Musikrichtung der Klassischen Musik gewesen, Lenin oder Stalin nur Komponisten. Zu welcher Hybris der moderne Mensch möglich ist, beweist das 20. Jahrhundert. Dieses wird eingeläutet durch die bolschewistische Revolution im Oktober 1917. An diesem Umsturz auf politischer, ökonomischer, ideologischer, moralischer und normativer Ebene arbeitete sich das gesamte 20. Jahrhundert ab, bis schließlich 1989/90 das sowjetische Imperium leise implodierte. Eine Erklärung dafür zu finden, wie es zu dieser Revolution kommen konnte, ist zur Lebensaufgabe von Gerd Koenen geworden.

Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Verlag C.H.Beck 2017. 1.133 Seiten. 38,- Euro
Gerd Koenen, Jahrgang 1944, war selbst einmal von der Idee des Kommunismus begeistert. Nicht nur ideell, sondern auch politisch aktiv. So trat er 1973 dem neu gegründeten Kommunistischen Bund Westdeutschland bei. Der KBW war eine straff organisierte, maoistischen K-Gruppe. Statt zu Ende zu promovieren, widmete er sich ab 1974 der »revolutionären Betriebsarbeit« zu widmen, ab 1976 redigierte er die Kommunistische Volkszeitung des KBW. Koenens Desillusionierung begann Anfang der 80er Jahre, als er begann, sich mit der polnischen Widerstandsbewegung Solidarność zu beschäftigen. Er veröffentlichte mehrere Bücher, in denen er der Geschichte der kommunistischen Idee und ihre Rezeption in Deutschland nachspürte. Utopie der Säuberung: Was war der Kommunismus? aus dem Jahr 1998 und Das rote Jahrzehnt – Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977 von 2001 zeugen von der intellektuellen und persönlichen Aufarbeitung des Glaubens an die kommunistische Idee. In der von Daniel Cohn-Bendit damals herausgegebenen Zeitschrift Pflasterstrand hatte Koenen 2001 unter der Überschrift »Der Kindertraum vom Kommunismus« folgendes geschrieben: »Denn die Errichtung kommunistischer Gesellschaften war immer und unweigerlich mit einer drastischen Senkung des längst erreichten Grades an Differenziertheit und Komplexität verbunden. Die Voraussetzung jeder Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse ist eben ihre Reduktion – und damit zugleich die Beschneidung aller vitalen, unberechenbaren, anarchischen Triebe und Bestrebungen der Menschen. Das reicht in der Konsequenz bis in die Planung und Erzeugung des menschlichen Lebens selbst hinein.« Statt Befreiung, Emanzipation, Revolte, Diskurs die Senkung der Differenziertheit und Komplexität sowie die Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse. Der Kommunismus, so scheint es auf den ersten Blick, beinhaltet die entgegengesetzte Entwicklung, die die Renaissance eingeleitet hat. Und dennoch war diese Ideologie eine höchst erfolgreiche, wie Koenen auf mehr als 1.000 Seiten nachvollzieht.
Koenen wagt, und hier reiht er sich in die intellektuelle Phalanx von Roeck, Geck, Schlögel und Reckwitz ein, den großen Wurf. Einen Wurf, der weit zurückgreift, der die ideologischen Wurzeln der kommunistischen Idee bis in die Zeiten der Sesshaftwerdung des Menschen verfolgt. Der die antiken und mittelalterlichen Schichten freilegt. »Kommunismus als Weltgeschichte«, so ist der Autor auch das erste von vier Büchern in Die Farbe Rot überschrieben. Die Attraktivität speiste sich aus den menschlich und kulturell tief verwurzelten Sehnsüchten, die sich eben auch in den großen und wichtigen religiösen, spirituellen wie philosophische Erzählungen wiederfinden. Eine Idee, die auf einen solchen historischen Fundus an Begründung zurückgreifen kann, kann eine solche Idee falsch sein? Kann eine solche Idee scheitern? Ja! Sie ist gescheitert, auch Koenen ist mit seiner eigenen politischen Vision, seinen Hoffnungen gescheitert. Koenen muss, und das ist sehr angenehm an seinem Buch, den Kommunismus nicht zum x-ten Mal besiegen. Allein die Gewichtung macht dies deutlich: 800 Seiten werden den Ursprüngen gewidmet, die im Tod Lenins, ihr Ende finden, das 20. Jahrhundert und der Ausblick auf das 21. Jahrhundert werden auf 200 Seiten abgehandelt. Und vergessen wir nicht: Die kommende politische Supermacht bezeichnet sich nach wie vor als kommunistisch. Ganz an sein Ende ist der Kommunismus noch nicht gekommen.
Das materialreiche Erbe von fast siebzig Jahren realer kommunistischer Herrschaft in der Sowjetunion untersuchte Karl Schlögel. Das sowjetische Jahrhundert hat er als »Archäologie einer untergegangenen Welt« verarbeitet. Wer Karl Schlögel einmal persönlich begegnet ist, wird seine beinahe schüchterne Zurückhaltung, seine stets reflektierende Art, sein in sich zurückgezogenes, sein leises Denken bemerkt haben. Ihn zeichnet eine wundervolle Intellektualität aus, die ihre Kraft aus ihrer Bescheidenheit des Argumentativen zieht, nicht aus der grellen Behauptung. Kaum vorstellbar, dass diese Person alleine durch Russland trampt, dass er sein Wissen vor Ort erfährt, dass er das Land kreuz und quer durchwandert und erforscht, dass ihn die sinnliche Dimension des Historischen umtreibt. Aus dieser Haltung entstand dieses jüngste Werk. Schlögl ist weniger an den historischen, politischen Entscheidungen, Ereignissen und Prozessen interessiert, als vielmehr daran, was und wir die Sowjetunion war und noch viel mehr, wie sie sich angefühlt, wie sie geschmeckt, gerochen hat, wie in ihr gelebt wurde und wie sich dieses Leben materialisierte. Materialisierte in Städte, in Industrie, in Parfums, in Wohnanlagen, in Klaviere, in Gefangenenlager, in Kochbücher. Kein Gegenstand ist Schlögl zu unwichtig, zu banal, um nicht behandelt zu werden, als materialisiertes Erbe der Sowjetunion. Schlögel betreibt Archäologie, er legt Schicht um Schicht des Ideologischen und Politischen frei und eröffnet neue Blicke auf alltägliche Gegenstände.

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. Verlag C.H.Beck 2017. 912 Seiten. 38,- Euro.
Finden, beschreiben und erklären, das ist die Welt von Karl Schlögel. Und damit eröffnet er uns neue Welten. Auch untergegangene Welten. Er bedient sich auch in diesem Buch einer unkonventionellen Methode, ein Markenzeichen dieses Historikers. In seiner letzten großen Studie Terror und Traum über Moskau des Jahres 1937 wählt er die Perspektive, mit der Michail Bulgakow seinen Roman Meister und Margarita enden ließ. Schlögel erhob sich und seine Leserinnen und Leser in die Lüfte, um den Schauplatz Moskau als ganzen zu übersehen. Nun bedient sich Schlögel dem Konzept des »musée imaginaire« von André Malraux. Für ihn enden die Sammlungen von Objekten fast zwangsläufig in einem Museum, »wo Menschen – Einheimische wie Fremde – sich einfinden, weil sie sich die sowjetische Welt vergegenwärtigen – und vermittelt über die Exponate – ins Zwiegespräch kommen wollen mit Generationen, die nicht mehr sind und die selber nicht mehr sprechen können. Die Idee eines musée imaginaire – so André Malraux – oder eines »Palastes der Erinnerungen« – so Matteo Rici – für die sowjetische Zivilisation hat sich ergeben als die schlüssige Form, in der die vorliegende Untersuchungen eingemündet sind«. Ähnlich wie Geck vertraut auch Schlögel den mündigen Leserinnen und Lesern, die selbständig und dabei vielleicht labyrinthisch durch das Buch wandern. Sie sind auch fähig, eigene Schlüsse aus den Objekten der Geschichte, den Schicksalen, den Orten und der Zeit zu ziehen.
Auch dieses Buch verweist auf die Renaissance, denn es war diese Epoche, die, so Malraux 1947, das Museum hervorgebracht hat. Und mit ihm ein neues Verhältnis zur Kunst und zu Kunstwerken. Die Kunstwerke erfahren eine Metamorphose. Sie werden von ihrer Funktion befreit und stehen nur noch für sich. Museen sind damit Institutionen, die in diesen Dimensionen einen ausgesprochen europäischen Charakter aufweisen. Karl Schlögel möchte seine Sammlungen von Objekten aber nicht nur in der Imagination, im Virtuellen vorweisen können. Er möchte sie verorten, zusammentragen in einem realen Museum. Für ihn gibt es keinen besseren Ort eines solchen Museums als die Lubjanka, den Sitz der Geheimdienste. Welch Botschaft: Das Symbol des Terrors als ein Forum der offenen Gesellschaft. Ein Ort, an dem die Geschicke von Millionen Menschen zusammengelaufen sind, ein Ort, der groß genug ist für eine solche große Idee. Und schließlich mit einem Blick über Moskau, »die Hauptstadt eines Landes, das um die Abgründe der Geschichte weiß und daraus Kraft schöpft für die Zukunft«.
Karl Schlögel, gerade 70 Jahre alt geworden, erhielt 2009 für sein Werk Terror und Traum den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Archäologie einer untergegangenen Welt, die auch mit einer sprachlichen, stilistischen Schönheit glänzt, hätte ebenfalls einen Preis verdient. Nicht zuletzt, weil sein Werk ein Versöhnungsangebot und einen Arbeitsauftrag für gegenwärtige und zukünftige Generationen enthält.