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Gegen den Trend: Der Traum von einem vereinigten Europa

Das europäische Problem muss durch eine neue staatliche Union in Europa gelöst werden, fordern Brendan Simms und Benjamin Zeeb in ihrem Alarmruf »Europa am Abgrund«. Statt eines kontrollierten Umbaus fürchten sie jedoch einen großen Knall.

Es gibt noch Menschen, die glauben an Europa. Die klugen unter ihnen wissen, dass die Europäische Union dazu eine völlig andere Ausgestaltung wie bisher benötigt. Und die sehr Klugen unter diesen Klugen haben dafür eine Organisation gegründet, die diese Neugestaltung Europas in Angriff nimmt. Gegründet wurde diese Organisation mit dem Namen Project for Democratic Union im Jahr 2013 in München, vor allem von Studierenden und jungen Akademiker*innen. Dieses Projekt bezeichnet sich als eine europäische Open-Source-Denkfabrik, die eine vollständige politische Integration der Eurozone befürwortet. Die politische Vereinigung der Mitgliedsstaaten der Eurozone soll nach dem Vorbild einer anglo-amerikanischen Verfassungsgrundlage vollzogen werden. Das Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa.

Zwei der maßgeblichen Köpfe dieses Think Tanks haben mit Europa am Abgrund ein Plädoyer für dieses Vorhaben veröffentlicht. Der Bekanntere der beiden Autoren ist Brendan Simms, ein irischer Historiker und aktuell Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen am Centre of International Studies an der Cambridge University. 2014 ist von ihm das Buch Kampf um Vorherrschaft: Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute, erschienen, ein intellektueller Parforce-Ritt, der die letzten fast sechs Jahrhunderte deutscher und europäischer Geschichte gegen den Strich bürstet. Simms führte den geographischen Raum als Erklärung europäischer Geschichte wieder in die historiographischen Debatten ein. Eine Erkenntnis, an der sich auch ein so renommierter Politologe wie Herfried Münkler abarbeitete.

Benjamin Zeeb ist der jüngere, weniger bekannte Autor des Plädoyers. Er ist ebenso wie Simms Historiker, lebt in München und leitet die Geschäfte des Project for Democratic Union. Zeeb ist die treibende Kraft des Projektes, das uns Wege aufzeigt, Wege in ein besseres Europa.

Und dieses bessere Europa ist so dringend wie selten zuvor, denn dieses Europa steckt in seiner tiefsten Krise seit mehr als 50 Jahren. Warum? Weil die Gefahr besteht, dass die gemeinsame Währung und die Institutionen, die momentan die EU zusammenhalten, jeden Augenblick implodieren könnten. Und die politischen Gefahren sind offensichtlich: Der Brexit, den Simms und Zeeb im Frühjahr 2016 bereits prognostizierten, ist Realität. Wie es mit Frankreich weitergeht, ist offen, ebenso die Lage in Italien nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum von Anfang Dezember, das der eben zurückgetretene Premierminister Matteo Renzi dem Land und Europa eingebrockt hat. Währenddessen versucht ein wiedererstarktes Russland die territoriale, rechtliche und politische Ordnung des Kontinents zu destabilisieren. Seine Intervention in Syrien hat den Nahen Osten zum Unguten verändert, diese Region befindet sich in einer schlimmeren Lage als jemals zuvor. Es exportiert Instabilität durch Terrorismus und Migrationsströme, zu deren Eindämmung oder Bewältigung die Instrumente, der politische Willen und die strategische Weitsicht vor allem deutscher Parteien fehlen. Zeeb und Simms kommen daher zu keinem guten Ergebnis: «Kurz gesagt: Unser Kontinent steht am Abgrund.«

Wie nun weiterverfahren mit einem Europa am Abgrund? Einen breiten Raum des schmalen Buches nehmen zwei Länder der EU ein, Großbritannien und Deutschland. Beide Staaten werden als Teile des Problems wie als notwendige Bestandteile einer Lösung identifiziert. Ausgehend von den Thesen des Buches Kampf um Vorherrschaft stellen Simms und Zeeb die These auf, dass es in den europäischen Auseinandersetzungen stets darum ging, den Raum im Herzen des Kontinents zu beherrschen. Wie konnte man Deutschland einhegen und/oder wie konnte man seine Kräfte am besten zum Wohle Europas mobilisieren. Nach dem Fall der Mauer und der deutschen wie europäischen Wiedervereinigung stellte sich diese Frage neu. Die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung diente daher ebenfalls der Einhegung Deutschlands wie der Mobilisierung seiner Ressourcen. Deutschland akzeptierte dies unter drei Aspekten: Als Preis für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, als Voraussetzung für eine breitere und tiefere politische Integration Europas sowie mit der Bedingung, dass die strengen deutschen Regeln im gemeinsamen Währungsraum herrschen sollten. Es schien, dass die deutsche Frage durch Deutschlands Integration in den Westen gelöst worden sei.

Zwei aktuelle Entwicklungen vermitteln den Eindruck, als sei dies eine Scheinlösung gewesen. Zum einen hat Deutschland nach der Banken- und der daraus folgenden Finanzkrise in Europa folgenschwere Fehler verursacht, die mit dem Label Austeritätspolitik verbunden sind. Es mag die eine oder andere intellektuelle Schlacht geschlagen werden, welche Alternativen der deutschen Politik tatsächlich zur Verfügung gestanden hätten, eine nachhaltige Lösung für die strukturellen wie immanenten Finanzierungs- und Wirtschaftsnöten Griechenlands zu implementieren. Politisch aber hat der Versuch der deutschen Regierung, Griechenland eine umfassende Neustrukturierung seiner Finanzpolitik zu oktroyieren, einen immensen Flurschaden hinterlassen. Bezahlen musste die deutsche Regierung ihre Politik mit einer schwindenden Unterstützung, nicht nur in Griechenland, sondern in allen Ländern, die seit der Bankenkrise des Jahres 2008 nicht mehr von der gemeinsamen Währung profitieren. Ist die Peripherie daher weiterhin bereit, die Bedingungen zu akzeptieren, die von Deutschland und den Institutionen europäischen wie internationalen Institutionen vorgeben werden?

Relevant wurde diese Frage mit der Flüchtlingsproblematik im Herbst 2015. Als einziges prosperierendes Land in Europa wurde Deutschland zum bevorzugten Ziel derjenigen Menschen, die aus politischen Gründen ihre Länder verlassen hatten. Da die Bundesrepublik bis zum Sommer 2015 nur wenig Solidarität mit ihren europäischen Nachbarn gezeigt hatte, eskalierte die Flüchtlingsfrage politisch auch auf Ebene der EU. Dafür machen Simms und Zeeb eben das historische Argument stark, wie es in Kampf um Vorherrschaft ausformuliert wurde und kommen zur Erkenntnis: »Für das gegenwärtige Schlamassel ist nicht Deutschland verantwortlich, sondern das deutsche Problem, und das ist der Unterschied.« Dieses deutsche Problem ergibt sich eben aus der geographischen Lage und den Politiken, die daraus abgeleitet werden.