EGO: Wie der Mensch berechenbar wurde

Stephan Wehowsky's picture

EGO: Wie der Mensch berechenbar wurde

Von Stephan Wehowsky, 26.02.2013

Wer hat den Kalten Krieg wirklich gewonnen? Der Westen? Ganz gewiss. Allerdings um den Preis, dass er seine Seele verlor. Damit ist er am Ende der grosse Verlierer. Aber der Reihe nach.

Die Geschichte, die Frank Schirrmacher in seinem neuesten Buch erzählt, beginnt tief unten in den Bunkern der amerikanischen Flugabwehr. Der Zweite Weltkrieg war zwar gewonnen, aber der nächste stand bevor. Denn der ehemalige Verbündete gegen Nazi-Deutschland war der neue Feind. Jederzeit konnte die Sowjetunion mit ihren Atomwaffen Amerika angreifen und in Grund und Boden bomben.

Wo lauert der Feind?

Wann würde sie angreifen und wo? Und vor allem: Wie sollte man erkennen, dass sie gerade jetzt angreift? Luftüberwachung erschien als das Mittel der Stunde. Bomben werden mit Flugzeugen oder Raketen transportiert. Flugzeuge wiederum füllen die Radarschirme ohne Ende. Denn Tausende bewegen sich ständig hin und her, in allen möglichen Richtungen und auf allen möglichen Routen. Wie kann man ein Flugzeug identifizieren, das mit einer tödlichen Last in feindlicher Absicht unterwegs ist?

Hochqualifizierte Spezialisten sassen metertief unter atombombensicheren Beton, starrten auf ihre grünlich flimmernden Bildschirme mit den Bewegungen von Flugkörpern – und nickten ein. Oder sie stürzten auf dem Weg in die Kantine und brachen sich ein Bein. Topfitte Leute wurden matt bis zur Unbrauchbarkeit.

Beobachten und beobachtet werden

Psychologen, Ärzte und andere Spezialisten wurden aufgeboten, um diese seltsame Art von Mattigkeit zu erklären. Sie fanden schnell heraus, dass die grünlich schimmernden Bildschirme eine hypnotische Wirkung haben. Sie lösten eine Art Trance aus. Wie der begegnen? Aus dem Ganzen müsste ein Spiel werden: Wer trickst wen aus? Wenn man ständig damit rechnet, dass der Gegner mit der am harmlosesten aussehenden Flugbewegung das ganz dicke Bombenpaket und den perfidesten Angriffsplan tarnt, dann gibt es keine Linie oder keinen Punkt mehr auf dem Monitor, der irgendwie langweilig wäre.

Das war der erste Schritt. Der zweite Schritt: Wir beobachten den Gegner, und der Gegner weiss, dass wir ihn beobachten. Was wird der Gegner tun, wenn er weiss, dass wir ihn beobachten und auch wir bei unserem Tun genau wissen, dass er uns beobachtet? Unser Handeln wird beobachtet, und da wir wissen, dass wir beobachtet werden, handeln wir so, dass wir sehen können, wie der Gegner reagiert, wenn er uns beobachtet. Und so weiter.

Der komplizierte Mensch

Das Beobachten des Beobachters des Beobachters. Der entscheidende zweite Punkt von Schirrmacher ist nun, dass das Beobachten alleine nicht reicht. Man muss ja ein Schema haben, das es einem erlaubt, das Beobachtete zu interpretieren, ihm einen Sinn zu unterlegen. Warum tut der Beobachtete das, was er tut? Hier kommt die neue fantastische Vereinfachung ins Spiel, die den westlichen Code umgeschrieben hat und womöglich den endgültigen Niedergang unserer Gesellschaft bewirkt.

Ursprünglich war der westliche Code kompliziert. Da gab es die Freiheit, da gab es Liebe, da gab es ethische Verpflichtungen wie Verantwortung, da gab es das Bestreben, dem eigenen Leben einen Sinn zu verleihen, der schwer erklärbar ist und sich schon gar nicht in Heller und Pfennig ausdrücken lässt. So betrachtet entzieht sich der Mensch der Berechenbarkeit und ist unerschöpflicher Stoff für die Kunst, die Philosophie und die Psychologie.

Die Berechenbarkeit

Aber er ist nichts für Computer. Computer müssen rechnen, sie brauchen „Berechenbares“. Computer beziehungsweise die Programme, nach denen sie ticken, wurden zum Leitmedium in Zeiten des Kalten Krieges. Wie aber liess sich der Gegner computergerecht erfassen, berechenbar machen? Ganz sicher nicht, indem man Dostojewski oder Tolstoi las. Viel einfacher waren drei ebenso simple wie naheliegende Annahmen: 1. Der Gegner will überleben. 2. Der Gegner will einen Vorteil ergattern. 3. Der Gegner will allein gewinnen, also kein Win-Win-Ergebnis. Er will den Gegner vernichten.

Frank Schirrmacher schildert, wie hochintelligente Spezialisten unterschiedlichster Disziplinen die ersten Analysen und die ersten Computerprogramme für den Sieg im Kalten Krieg geschrieben haben. Und sie hatten Erfolg. Der Osten brach zusammen. Aber auch das westliche Ich.

Physiker an der Wallstreet

Wie das wiederum ablief, geht nicht nach dem einfachen moralistischen Schema, nach dem der Sieger letzten Endes nicht besser als der Besiegte ist. Die Sache hat einen besonderen Dreh, und Schirrmacher schildert ihn. Auf der einen Seite war der Kalte Krieg die Zeit, in der sich Think Tanks wie die RAND Corporation beim Militär und der Politik unentbehrlich machen konnten und Atomphysiker in jeder Weise begehrte und gefeierte Stars waren. Aber mit dem Ende des Kalten Krieges konnten die Mohren aus den Labors gehen.

Immer mehr Forschungsprogramme fielen dem Rotstift zum Opfer, und auch die Wirtschaft kam nicht mehr so recht voran. Aber zwei Erträge sollten Wallstreet beflügeln: Die Programme der Think Tanks mit dem Menschenmodell als rationalen Egoisten und die Kreativität der Atom- und Astrophysiker, die in ihren Jobs keine Beschäftigung mehr fanden und sich fortan einen Spass daraus machen sollten, den hungrigen Händlern an der Wallstreet Programme zu verkaufen, die zu einer wundersamen Geldvermehrung beitrugen und die letzten Endes nur Physiker und Mathematiker ihrer Qualifikation annähernd nachzuvollziehen in der Lage waren.

Fatale Intelligenz

Und so kam es, dass das ursprünglich im Kalten Krieg entwickelte Modell der „Rational Choice“ zum alles beherrschenden Paradigma wurde. Es sickerte nicht nur in die Programme der Brooker von Wallstreet ein, sondern beherrscht auch die Algorithmen der Anbieter wie Amazon oder Facebook. Und so wurde aus dem „Ich“, das früher einmal Träger der Individualität, der Freiheit, der Subjektivität war, eine Plattform, auf der sich alles vermarkten lässt, einschliesslich des „Ich“.

Das ist das Resultat hochintelligenter Leute. Liest man Schirrmachers Buch etwas gegen den Strich, so kommt stellt sich die Frage: Sind es gerade die besten Köpfe, die das grösste Unglück anrichten? So, wie Schirrmacher es schildert, waren es ja gerade die besten Spezialisten ihrer Fächer, die die besten Lösungen präsentierten und damit den Weg in die Sackgassen ebneten, in denen wir heute gefangen sind. Ein weites Feld ...

Wo steht Schirrmacher?

Wieder einmal hat der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, ein Thema gesetzt. Verfolgt man die Debatten zu seinem Buch im Internet, so ist es witzig, wie Schirrmacher manchen sich für wachsam haltenden Geist verwirrt: War die FAZ nicht doch eher eine bürgerliche Zeitung? Wie passt Schirrmacher als Herausgeber noch dazu? Wie kann er eine derartig niederschmetternde Diagnose stellen, die man eher in linken Postillen erwarten würde?

Noch schlimmer: Fordert Schirrmacher gar die Verstaatlichung der Banken? Darauf angesprochen, antwortete er: „Ich war es auch nicht, der die Verstaatlichung von Banken forderte. Das waren Banker.“ - Aber das sind Spielereien und Wortgefechte. Frank Schirrmacher diagnostiziert das Hauptleiden unserer Zeit: die Entkernung des Ich. Aus dem „Ich“ wurde das blosse „EGO“. Das ist viel wichtiger.


Frank Schirrmacher, EGO. Das Spiel des Lebens, Karl Blessing Verlag, München 2013

Ähnliche Artikel

Es ist schon so, dass die so genannt gescheitesten Köpfe eines geschafft haben: Eine gigantische, virtuelle Spekulationsblase zu etablieren. Die Schöpfer der Geldvermehrungsmaschinerie haben einen Zirkel von Supereichen, Fonds, etc. herangezüchtet. Der normale Bürger hat nichts von diesen "genialen" Erfindungen. Ausser, dass er davon träumen kann. Aber davon zu träumen, ist nicht ungefährlich. Der Mensch wird zu einem egoistischen, technikbestimmten, zeitgetriebenen Wesen. Wobei bei einem Wesen davon ausgegangen wird, dass es eine Seele hat. Der Mensch ist im Begriffe seine Seele zu verhökern. Dafür hat er das Smartphone, pfropft sich die Ohren zu, wischt behende mit den Fingern, will von der Umwelt nichts wissen und gibt sich informiert. Mir graut, wenn ich an die Überalterung der westlichen Gesellschaften denke. Roboter alleine werden die Altenpflege nicht übernehmen können. Es bräuchte noch ein paar Menschen, die im Kopf fit sind und sich emphatisch etwas zutrauen. Die Wissenschaftler leben meistens im Elfenbeinturm, sind froh, so viel wie möglich zu publizieren und sind meistens nicht geeignet, gesellschaftliche Probleme ganzheitlich anzugehen und entsprechende Lösungen auszuarbeiten. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass in vielen Sparten unglaublich vieles produziert wird - leider meistens nicht zu Gunsten aller und der Welt.

Mir scheint der Herr Schirrmacher (eher konservativ, nicht?) sehnt sich irgendwie nach den guten alten Mysterien zurück. In Amerika gab's auch die Auffassung diese kalten rationalen Sowjet-Technikfreaks (Sputnik-Schock) würden das gute Amerika leider auch zwingen sich etwas mehr mit Rationalität zu beschäftigen (aber bitte nur so viel wie absolut nötig).

Ich bin Physiker und gar nicht der Auffassung, dass Rationalität irgendwie geisttötend oder kalt sein muss, und schon gar nicht simplistisch wie hier irgendwie suggeriert wird. Vielleicht sollte man auch etwas mehr auf Naturwissenschaftler hören und sie nicht nur als (langweilige aber leider notwendige) Hilfskräfte für Wirtschaft und Börse in einer von Juristen und Ökonomen gemachten Welt betrachten...

Wie aus Feinden Freunde werden. Beim betrachten des Planet Erde als geschenkter Garten und nicht nur als Labor, wächst die Erkenntnis zu mehr Verständnis. Kompromissbereitschaft ist und bleibt die tragende Säule für Bindungen. Solches Zusammentun kann durchaus als lockeres oder enges Bündnis verstanden werden. Voraussetzung ist die Bereitschaft, trotz differentem Denken das Gegenüber als gleichwertig anzunehmen. Paranoides Misstrauen dagegen ist das Gift und die Krankheit die Ur-Vertrauen zerstört und aus relativ harmlosen Partnern plötzlich ernsthafte Gegner macht. Die Tradition der Schweiz mit ihren Nachbarn freundschaftlich zusammen zu leben wurzelt in der uneingeschränkten Fähigkeit Kompromisse einzugehen. Als multikulturelle Gemeinschaft praktizieren wir das sowohl innen wie aussen mit Erfolg. Entgegenkommen ist und bleibt Wurzel des Friedens und Freundschaft. Eine indianische Redensart sagt:“ Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht Monde lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“ Sich in seine Problematik einzufühlen, seine Perspektiven auszuloten und die daraus resultierenden gemeinsamen Interessen wahrzunehmen ist das A und O von Bündnispartnern. Gilt in der Ehe wie in der Politik. Frieden ist machbar, nicht aber wenn der Wille dazu fehlt oder die Krankheit ( Paranoia ) herrscht.

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren