Feiger Westen - Stimmt das Adjektiv?

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Feiger Westen - Stimmt das Adjektiv?

Von Reinhard Meier, 26.04.2014

In der NZZ war im Zusammenhang mit dem Krim-Ukraine-Russland-Konflikt folgender Satz zu lesen: „Auch die feige Haltung des Westens gegenüber der Machtpolitik Wladimir Putins ist keineswegs neu.“

Bei der Diskussion um diesen Satz geht es in dieser Kolumne nicht um eine umfassende Auseinandersetzung um den aggressiven Kurs Putins gegenüber der Ukraine und die Reaktion des Westens in dieser Krise. Es geht im sprachkritischen Sinne vielmehr um den Gebrauch des Adjektivs „feige“ zur Charakterisierung der westlichen Haltung. Ist das der angemessene  Wortgebrauch?

Adjektivische Alternativen

Der Duden gibt für „feige“ folgende Bedeutung an:  unehrenhaft vor jeder Gefahr und  jedem Risiko ängstlich zurückschrecken, ohne Mut.  Natürlich kann man die bisherige Reaktion des Westens insgesamt auf Putins kaltschnäuzige Annexion der Krim und die provokativen Einmischungen Moskaus in der Ostukraine so sehen.  Doch nach meiner Ansicht und für mein Sprachgefühl ist das ein allzu apodiktisches, holzschnittartiges Urteil  und deshalb zu wenig differenziertes Urteil – bei allem Einverständnis mit der Meinung, dass Putins expansives Powerplay gegenüber der Ukraine vom Westen nicht folgenlos geschluckt werden darf.

Was wären denn andere mögliche Adjektive zur Beschreibung der westlichen Reaktionen gegenüber Putins völkerrechtswidrigen Anmassungen?  Denkbar sind: zurückhaltend, schwach, zaudernd, uneinig - aber auch positiver: differenziert, überlegt, risikobewusst.  Im Unterschied zur kategorischen  Aussage des Adjektivs „feige“ haben diese alternativen  Wortwahl-Vorschläge den Vorteil, dass sie eben kein unumstössliches Urteil festnageln. Vielmehr wird die Möglichkeit offen gelassen, dass  der Verlauf dieser Krise noch im Fluss ist und sich somit noch einiges ändern kann – zum Beispiel in Sachen Sanktionen gegenüber Moskau.  

Was genau ist mit mutig gemeint?

Ausserdem wäre  zu hinterfragen, was denn genau die Charakterisierung „nicht feige“ oder „mutig“ in diesem Kontext verdienen würde:  Nato-Truppen in die Ostukraine entsenden? Flugangriffe gegen russische Garnisonen auf der Krim lancieren? Künftig ganz auf Gas- und Öllieferungen aus Russland verzichten?   Wer mutige Haltungen einfordert, sollte zumindest genauer konkretisieren, was damit gemeint ist.

Und was die bisher angebliche fehlende Geschlossenheit des Westens gegenüber Moskaus Herausforderungen betrifft, die einige Kommentatoren beklagen: Nato und EU sind eben keine Kommando-Vereine, die alle fraglos nach der gleichen Pfeife tanzen. Es sind vielmehr Bündnisse demokratischer Staaten, die meist mühsam und langatmig um Konsensentscheidungen ringen müssen. Wer solche Prozesse kurzerhand als definitive Beweise für Feigheit einstuft, urteilt zumindest vorschnell.

Erinnerung an Solschenizyns Diktum

In einigen Punkten erinnert diese Kontroverse an die Debatten im Westen über die sogenannte Détente-Politik gegenüber dem Sowjetimperium. Der grosse russische Schriftsteller und Dissident Alexander Solschenizyn hatte damals in einem Manifest behauptet, der Westen liege vor den Sowjetführern „auf den Knien“, weil er sich neben den Bemühungen um die Eindämmung des Moskauer Expansionsstrebens gleichzeitig auf einen intensivierten Dialog mit dem Breschnew-Regime einliess. Weniger als zwei Jahrzehnte später brach das vermeintlich so übermächtige Sowjetreich auseinander.  So falsch und feige, wie Solschenizyn und andere Kritiker mit ihren Pauschalurteilen argumentiert hatten, war die Haltung des Westens in jenem Fall  doch nicht gewesen. Aber das wurde erst im Nachhinein offenkundig

Nichts gegen kräftige Adjektive - doch sie sollten einer inhaltlichen Überprüfung einigermassen standhalten.

 

 

 

 

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Von Gastkommentar, von Peter Lüthi - 06.10.2020

Mal vorweg gesagt: Ich stimme mit Ihnen überein! Allerdings vermisse ich in Ihrer Darstellung einige Präzisierungen. Meines Erachtens wäre es "richtig(er)" gewesen (um das von Ihnen gebrauchte Adjektiv aufzugreifen), wenn dem zitierten Satz genauere Angaben gefolgt wären, z.B. betreffend Autor, Ressort, textueller Einbettung (Funktion des Autors, Art und Funktion des Artikels, ob es sich bei dem zitierten Satz um eine Aussage des Journalisten oder um eine Wiedergabe handelt, usw.) - so wie bei Zitaten eigentlich üblich und erwartet. Somit hinterlässt Ihre Darstellung in Puncto Angemessenheit bei mir als Leser einen genauso 'tendenziösen' Eindruck, wie das von Ihnen angeprangerte Adjektiv, das sich die NZZ erlaubt hat! Denn gerade eine solche nicht sachliche Darstellung seitens der NZZ ist es, was nebst der Unangemessenheit des benutzen Adjektivs bei der ganzen Angelegenheit ins Auge sticht…

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