"Für eine öffentliche Krankenkasse"

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"Für eine öffentliche Krankenkasse"

Von Christoph Zollinger, 08.09.2014

Nein zu leeren Versprechungen. Nein zu leeren Drohungen. Ja zu vertieftem Studium der Vor- und Nachteile - sowohl der bisherigen, als auch der vorgeschlagenen neuen Lösung.

Ob wir in der Schweiz zukünftig statt über 60 privaten Versicherungsgesellschaften nur noch eine öffentliche Einheitskrankenkasse haben werden, darüber sollen die Stimmenden an der Urne entscheiden. SP, Grüne und rund 20 Organisationen/  Verbände haben diese Initiative gestartet vor dem Hintergrund verbreiteter Unzufriedenheit über steigende Kosten des aktuellen Gesundheitssystems und hoher Prämienlast der obligatorischen Grundversicherung.

Sich zurechtzufinden im medialen Parolendschungel fällt nicht einfach. Die individuelle Standortanalyse sollte unbestrittene Facts zum Ausgang nehmen. Danach gilt es, Argumente der Befürworter und Gegner zu durchleuchten. Sodann möchte man wissen, wer hinter diesen Schlagworten steckt und warum. Dann erst kommt das persönliche Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen der sehr unterschiedlichen Vorstellungen. Zu guter Letzt: Abstimmen statt Achselzucken!

Unbestrittene Facts in Kürze

Die Schweiz leistet sich das zweitteuerste Gesundheitswesen der Welt (hinter den USA). Unsere Gesundheitskosten steigen jährlich, von 43 Milliarden Franken im Jahr 2000 auf 72 Milliarden im Jahr 2013. Dies sind 6,7% mehr als 2012 oder 3469 Franken pro versicherte Person. Der Anstieg über diese 13 Jahre beträgt 67%. Die durchschnittlichen Krankenkassenprämien der obligatorischen Grundversicherung kletterten im Zeitraum von 2002 bis 2013 (11 Jahre) um 58.3%, also ungefähr im Gleichschritt mit den Kosten. Dieser kontinuierliche Anstieg ist einerseits nachfragebedingt, andererseits u.a. durch steigende Kosten von Medikamenten und Spitälern verursacht.

Gut 95% der Gesundheitskosten sind Ausgaben für im weitesten Sinne medizinische Leistungen. Da spielen 5% (heute) oder etwas weniger (Einheitskasse) Verwaltungskosten tatsächlich eher eine Nebenrolle.

Argumente der Befürworter  

Die Idee, die Grundversicherung neu nach dem Vorbild der staatlichen SUVA mit kantonalen Agenturen zu organisieren, ist auf den ersten Blick einleuchtend. Damit sollen die aufwändigen bürokratischen Kosten – verursacht auch durch  Kassenwechsel der Versicherten – stark gesenkt werden. Der Pseudo-Wettbewerb unter den Kassen nervt insbesondere dann, wenn wir am nationalen Fernsehen SRF die banalen Werbespots für einzelne Krankenkassen über uns ergehen lassen müssen – und die entsprechenden 200 Mio. Franken jährlich mit unseren Prämien erst noch selbst zu bezahlen haben. Auch die lästige Telefonwerbung und die Taktik, junge (billige) Menschen anzulocken, dagegen ältere (teure) abzuwimmeln, ist vielen ein Dorn im Auge. Einheitliche Prämien in allen Kantonen sollen Ungleichheiten abschaffen. Mittelfristig erhoffen sich die Befürworter Kosteneinsparungen von jährlich 3 Milliarden Franken.

Argumente der Gegner

Die Propagandakampagne der Gegner hämmert uns seit Monaten ihre Argumente ein. „Neutrale“ Gutachten werden zitiert, die vor dem Systemwechsel warnen. Die mangelnde Konkurrenz unter den Kassen und der Verlust der Wahlfreiheit würden sich zu Ungunsten der Versicherten auswirken. Wettbewerbsbedingte Anreize zur Kostensenkung würden durch die staatliche Einheitskasse abgeschafft. Und überhaupt: die Umstellung würde 2 Milliarden Franken kosten, die Vielfalt an Prämienmodellen wegfallen, die medizinischen Leistungen abgebaut. Die prognostizierten Kosteneinsparungen (siehe oben) stünden dagegen auf wackeligen Füssen.

Schlagworte überall

Viele Argumente stehen auf sandigem Boden. Nach dem üblichen Rezept der Lockrufe und Drohungen wird Stimmung gemacht. Ob durch diesen Systemwechsel die Prämienexplosion gestoppt werden könnte, wie die Initianten glauben machen wollen, ist fraglich. Diese folgt ja, wie oben gezeigt, mehr oder weniger den konstant steigenden Kosten im Gesundheitswesen. Es ist nicht einzusehen, wie eine Einheitskasse diesen Trend – stimuliert durch das persönliche Verhalten jedes einzelnen Menschen – stoppen könnte.

Auf der anderen Seite werden Verlustängste angeheizt. Mal ehrlich: Was bringt es dem Versicherten, wenn er spontan die Kasse wechselt, wo doch alle die gleichen Grundleistungen zu bezahlen haben? Oder die mangelnde Konkurrenz, darüber liesse sich trefflich streiten: Doch wie die staatlichen SUVA und AHV (auch diese eine Versicherung!) zeigen, ist die hochgelobte Konkurrenz in diesem Fall eh eine  Pseudokonkurrenz, letztlich unter Verbündeten.

Kampagnen-Transparenz

Es fällt auf, dass die Gegner eine kostspielige Kampagne führen. Sie dürfte an die  fünf Millionen Franken kosten, berappt mehrheitlich durch uns, die Versicherten, notabene. Zu diesen Kosten steuern Economiesuisse, der Pharmaverband Interpharma und der Schweizerische Versicherungsverband ihre namhaften Zahlungen bei. Die FDP will in ganzseitigen Inseraten „Leere Versprechen aufdecken“ um sogleich in eine verstaubte Drohkulissenargumentation zu verfallen: „Ein staatliches System wird zum Schuldenloch, gespart würde auf Kosten der Qualität“. Welche Hellseher haben diese Kampagne geprägt?

Die Krankenkassen hätten sich bei dieser Abstimmung neutral zu verhalten. Wer ihre Kundenmagazine aufmerksam liest, zweifelt etwas an ihrer „Neutralität“. Dies kann ihnen wohl nicht übel genommen werden. Doch jetzt wurde im Juli 2014 eine Abstimmungsbeschwerde gegen sieben Versicherungsgesellschaften eingereicht, wegen einseitiger Berichterstattung gegen die Initiative.

„So mächtig ist der Krankenkassen-Filz“ titelte der Blick am 15.7.2014. Er bezieht diese Feststellung auf die enge Verbandelung zwischen Schweizer Gesundheitspolitikern und Krankenkassen oder ihnen nahestehende Verbänden. Gegen 30 Parlamentarier hätten entsprechende Mandate. Gemeint sind stellvertretend z.B. Felix Gutzwiller (FDP), Jürg Stahl (SVP) und Francois Steinert (SP).  

Die Alliance Santé (Bündnis bestehend aus Politikern, Spitalvertretern, Apothekerverband, Interpharma u.a.) präsentierte im Mai 2014 ein „neutrales“ Gutachten des Rechtsprofessors Ueli Kieser, der – bei einheitlichen Prämien - einen Kostenschub für Familien prognostizierte. Die Initianten wehren sich gegen diese Auslegung mit der Begründung, ihr liege beim Wort „einheitlich“ ein Übersetzungsfehler vor.

Geteilte Meinungen

Claudia Schoch – dezidierte Gegnerin der Initiative - schreibt in der NZZ, der Wettbewerb ginge verloren, die Initiative zerstöre den privatwirtschaftlichen Geist im Gesundheitswesen vollends und löse kein einziges Problem. Eher persönliche Spekulation ist ihre Voraussage, wonach Qualität und Leistungsangebot leiden würden. Im gleichen Blatt meint Willi Morger, Veränderungen am heutigen System brächten nichts oder allenfalls Verschlechterungen – aus Kunden würden Zwangsversicherte.

Ein Arzt aus dem Kanton Zürich fragt in seinem Leserbrief, ob die Drohung mit der Vernichtung von 2000 Arbeitsplätzen beim Systemwechsel nicht eher auf eine heutige personelle Überdimensionierung schliessen lasse. Und: „Einleuchtend ist hingegen, dass Krankenkassenmanager, Verwaltungsräte und mit den Kassen verbandelte Politiker um ihre Einkünfte bangen.“

Sozusagen in letzter Minute schlagen nun Gesundheitspolitiker eine schärfere Kontrolle der Krankenkassen vor. Diese Idee ist etwas zu gut gemeint. Sie soll wohl eher der Initiative schaden. Die Versicherer ihrerseits geloben eine Verbesserung ihrer Arbeitsweise, dies käme der Qualität und dem Branchenimage zugute. Gibt es etwa doch Verbesserungspotenzial?

Der Politiker Urs Schwaller (CVP) befürchtet bei Annahme der Initiative den Verlust der Wahlfreiheit und einer einzigen Krankenkasse „ausgeliefert“ zu sein. Der Waadtländer Staatsrat Pierre-Yves Maillard (SP) erwartet im gleichen Fall ein Ende „unnötiger“ Prämienerhöhungen. Erwartungen sind Gossip – hüben wie drüben.

Bundesrat und Parlament sind gegen die Initiative. Alain Berset (SP), der den Entscheid zu vertreten hat, gibt sich konsequent, auch wenn es in diesem Fall gegen seine eigene Partei geht: Das geltende System hätte sich grundsätzlich bewährt.

Abwägen – dann abstimmen!

Diese kurze, unvollständige Übersicht zum Thema Einheitskrankenkasse zeigt, dass politische und wirtschaftliche Interessen einen klaren Entscheid erschweren. Da könnte vielleicht die Lektüre des Buches „UND ICH?“ von Paul Verhaeghe weiterhelfen. Er geht darin dem Selbstverständnis einer Gesellschaft nach, die jeden Lebensbereich dem Diktat der Ökonomie unterwirft. „Gehen Sie unbedingt zu einer Vorsorgeuntersuchung. Blutdruck und Cholesterin müssen zu bestimmten Terminen gemessen, Brüste, Herz und Gebärmutter gescreent werden und was ist mit Ihrem Dickdarm los?“, schreibt der Autor, Professor an der Universität Gent. Das Buch wurde in den Niederlanden ein Bestseller. „Noch nie ging es uns so gut – doch noch nie haben wir uns so schlecht gefühlt“, diagnostiziert er.  

Mal ehrlich: Führt der privatwirtschaftliche Wettbewerb unter den Krankenkassen zu mehr Effizienz oder ist dieser Wettbewerb eher ungesund? Die Systemfrage, zugespitzt auf „Wettbewerb oder Monopol“, ist sie nicht eher nebensächlich, hochgetrieben durch ein eher selbstverschuldetes, schlechtes Ansehen vieler privater Versicherer im Land? Antworten „kennen“ die involvierten Politiker, wie immer, aber je nach Parteicouleur völlig unterschiedliche.  

Die Ansprüche der Gesellschaft, die Interessen der Spitäler, Ärzte und Apotheken und der Pharmaindustrie und immer neue Therapiemöglichkeiten treiben die Gesundheitskosten unaufhaltsam in die Höhe. Wir alle sind Gefangene eines Systems, auf das wir nicht verzichten möchten. Daran dürfte auch ein Systemwechsel nichts ändern. Illusionen jedoch sind weit verbreitet, über alle politischen und ideologischen Grenzen hinweg.

Privat statt staatlich scheint im Vorteil, in einem Land, das eher misstrauisch gegenüber dem sich immer weiter ausbreitenden Staatseinfluss ist. So oder so werden die Gesundheitskosten aber weiter ansteigen. Die Abstimmenden am 28. September 2014 entscheiden lediglich über eine Begleiterscheinung innerhalb unserer Wohlstandsgesellschaft. Dennoch: Les absents ont tort!

-ganz einfach: im Zweifelsfalle für die liberale Lösung. Im Zweifelsfalle gegen Monopole (Marx war auch gegen Monopole, seine Jünger aber komischerweise schon). Auf jeden Fall werden die Krankenversicherungskosten nicht geringer werden, sondern, wie gehabt, weiterhin steigen. Das Selbstbedienungssystem funktioniert.

Es ist tatsächlich schade, dass auch bei dieser an sich wichtigen Abstimmung in den Medien nur Extremmeinungen abgebildet werden, dazu noch oberflächlich und plakativ. Dabei wird das Thema Gesundheitskosten aufgrund der demographischen Entwicklung immer wichtiger. Wir werden immer älter. Chronische Erkrankungen nehmen zu. Immer mehr Menschen müssen gepflegt werden. Entsprechend - dies nur eine kleine Korrektur - sind die demographische Entwicklung und die Löhne die Hauptgründe für die Entwicklung der Gesundheitsausgaben. Das hat die KOF der ETH Zürich 5 Jahre lang vorgerechnet. Gleichzeitig generiert das Gesundheitswesen über 35 Mrd. Franken Wertschöpfung und ist heute der grösste Arbeitgeber des Landes. Der Anteil der Ausgaben für Medikamente liegt bei unter 10%, im obligatorischen Bereich liegt er seit 10 Jahren bei rund 20%. Dabei gilt immer noch: eine Krankheit, die mit Medikamenten therapiert werden kann, verursacht in den meisten Fällen weniger Kosten als ein Spitalaufenthalt.
Interessant ist, dass nach Kostensenkungen gerufen wird, wir gleichzeitig aber eine föderalistische Struktur pflegen, die bestenfalls noch mit wehmütigem Blick auf die Zeiten der alten Eidgenossen gerechtfertigt ist. Im Gesundheitswesen leisten wir uns 26 Gesundheitsdirektoren in einem Land mit 8 Mio. Einwohnern.
Die Diskussion um die Einheitskasse sollte auch der Beginn einer Diskussion um das Thema "Föderalismus um jeden Preis" sein. Zumindest im Gesundheitswesen. Anders formuliert: Solange wir nicht bereit sind, das kleinkarierte Kantönligeistdenken zumindest im Gesundheitswesen schon nur in Frage zu stellen(Stichwort "nationale Spitalversorgungsstruktur"), gibt es aus meiner Sicht keinen Grund, sich über Kosten zu beschweren. Offenbar können und wollen wir uns das locker leisten. Inklusive opportunistischer Politiker, die einerseits in den Medien nach Kostensenkungen im Gesundheitswesen - meist in Form von Preissenkungen bei den Medikamenten - schreien, andererseits aber ihre gut bezahlten VR-Mandate bei Krankenkassen und kantonalen Ämtlis ins Spitalkommissionen hegen und pflegen.

Sehr gute Auslegeordnung, Herr Zollinger. Pseudokonkurrenz ist das Stichwort. Die 'privaten' Krankenversicherer bilden ein Kartell, das habe ich selbst erlebt, z.B. bei Mahngebühren-Androhung von Fr. 50.-. Auf meine Anfrage, ob das ernst gemeint sei und wenn ja, würde ich die Kasse wechsel, war die lapidare Antwort: "Das können Sie schon, aber das machen alle so". Seit 3 Monaten, konzertiert. Ist das Konkurrenz?

Bei einer gut geführten Einheitskasse könnte ich mir schon vorstellen, dass die Kosten ziemlich runterkommen. Dazu müsste sie die Ärzte und Spitäler sowie die Pharma an die kurze Leine nehmen und jegliche unnütze Eingriffe usw. abwürgen.
Meines Erachtens hätte man das vorherrschende Heilungsmodell in ein chinesisches System ändern sollen, wo man nicht die Krankheit bekämpft, was immer teurer und schwieriger ist, als dass man versucht die Gesundheit zu erhalten.
Die Kasse sollte dann auch Gesundheitskasse heissen und nicht Krankenkasse. Ich hoffe Sie verstehen den kleinen aber wichtigen Unterschied.

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