Jedem sein eigenes Göttlein

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Jedem sein eigenes Göttlein

Von Sara Beeli, 13.09.2017

Die christliche Kirche hat ihre Bedeutung verloren und unsere Gesellschaft befindet sich im freien Fall, findet Sara Beeli, die sich über den Verlust des Wir-Gefühls in einer (zu?) individualisierten Gesellschaft Gedanken macht.

Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.

Sara Beeli ist sechzehnjährig und besucht die fünfte Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. Sie ist Gewinnerin des regionalen „Jugend-debattiert“-Wettbewerbes 2017 und vertrat den Kanton Zürich am nationalen Finale in Bern.

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Über Jahrhunderte hinweg behauptete sich das Christentum als führende Kraft in ganz Europa, als mächtige, unverzichtbare Instanz, die das Geschehen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum prägte. Doch heute interessiert sich nur noch ein kleiner Teil der Jugend für die einst so bedeutende Religion. Wieso?

Wenn man in meiner Klasse eine Schnellumfrage zum Thema Religion machen würde, sähe das Resultat für die christliche Gemeinschaft trostlos aus: Wer geht regelmässig in die Kirche? Niemand. Die Entstehung der Traditionen Firmung oder Konfirmation? Kaum jemand kennt sie. Wer glaubt an Jesus Christus und an Gott? Die Ja-Stimmen lassen sich an einer Hand abzählen. Anscheinend ist es nicht mehr angesagt, christlich zu sein. Vielleicht, weil es ganz einfach nicht mehr dem Zeitgeist entspricht. Was entspricht denn dem Zeitgeist?

Glanzlose Kirche

Die Kluft zwischen unserer modernen Welt und den Glanzzeiten der Kirche ist so gross geworden, dass diese im heutigen Leben weder Platz noch Nutzen zu haben scheint. Die Unterschiede zu früher zeigen sich in sämtlichen Bereichen unseres Lebens, und sie werden immer extremer:

Seit der Aufklärung verdrängen logozentrische Ansichten die Geschichten der Kirche: Anstatt etwas als gottgewollt zu akzeptieren, suchen wir stets nach einem logischen Sinn. Probleme muss man rational angehen, technischer Fortschritt immer gefördert werden, und nichts darf jemals ruhen. Unser Alltag, unsere Ausbildung und Arbeit, selbst unsere Kommunikation und zunehmend sogar unsere Partnerwahl: Alles beruht auf Wissenschaft und Technik; Sie sind nicht wegzudenken aus unserer Gesellschaft. Kaum einer behauptet hingegen, dass unser Alltag ohne den kirchlichen Einfluss zusammenbrechen würde. In weniger als einem Jahrhundert wurde der Glanz der Kirche durch das Leuchten der Bildschirme ersetzt. Du brauchst Hilfe und schnelle Informationen? Das Internet liefert sie im Handumdrehen. Du willst Ablenkung und Spass? Schon da.

Doch wenn alles, was man braucht oder zu brauchen glaubt, immer per Mausklick verfügbar ist, wozu benötigt man dann noch den kirchlichen Glauben? Früher war das anders: Man konnte sich als einfacher Bauer nicht einfach nehmen, was man wollte, sondern war an die göttliche Ordnung gebunden, die jedem Menschen einen von Gott zugeteilten Platz in der Gesellschaft zuwies. Erst das Jenseits versprach die Erfüllung aller Wünsche, und nur unter der Bedingung, dass man die Zeit auf Erden im Einklang mit den kirchlichen Werten gelebt und die Autorität der Kirche stets akzeptiert hatte. Man hoffte also bescheiden auf eine erlösende Auferstehung und auf paradiesische Zustände im himmlischen Jenseits.

Selbstverwirklichung im Jetzt

Unser Leben heute dreht sich nicht mehr darum, auf heilversprechende Erfahrungen im Himmel zu warten und bis dahin brav dem göttlichen Plan zu folgen. Was wir heute anstreben, ist die absolute Selbstverwirklichung im Jetzt. Alle wollen und müssen zur bestmöglichen Version ihres Selbsts werden: reicher, schöner, erfolgreicher, intelligenter. Nichts ist je gut genug: Der ständige Leistungsdruck soll uns unaufhörlich zu noch Besserem anspornen. Die Option eines mehr oder weniger spektakulären fernen Jenseits, in dem Engelschöre zu Harfenklängen singen, interessiert schlicht nicht. „I want it all – and I would like it delivered“, brachte es die Entertainerin Bette Midler ironisch auf den Punkt. Das Augenmerk liegt darauf, ein fantastisches Leben auf Erden zu haben und das Diesseits voll auszukosten. Und dazu benötigen wir die Kirche nicht.

So nimmt sich jeder, was er gerade braucht, und da jeder ein kleines bisschen anders ist, nimmt sich jeder etwas anderes. Die Konsumhaltung stärkt dabei den fortschreitenden Individualisierungsprozess, was zunächst für den Einzelnen Vorteile mit sich bringt: Musik ja, aber bitte nur genau diejenigen Lieder, die ich mag, nicht die ganze CD. Brot ja, aber bitte nicht den Anschnitt. Dieses Auto gern, aber dann schon lieber in einer anderen Farbe. Dasselbe bei der Religion: Wir sind nicht mit einer Religion zufrieden, wie sie ist, denn sie ist nie perfekt für uns. Das sollte sie aber sein, schliesslich müssen wir uns selbst verwirklichen. Vielleicht gibt es einen Gott, aber jeden Sonntag in die Kirche? Danke, aber nein. Nächstenliebe ja, aber uralte Lieder singen? Und somit singt jeder für sich, was ihm am besten gefällt. Lauter Solisten, und kein Chor.

Verlust der Stärke

Die Individualisierung ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kostet uns ebenso viel, wie sie uns bietet.

Früher gab die christliche Gemeinschaft das gemeinsame Ziel vor. Das ist lange her: Aus „wir“ wurde „ich“, aus der Ganzheit der Christen viele Einzelpersonen, die sich eigentlich so ähnlich, aber letztlich doch zu verschieden sind, um zusammenzugehören. Sobald man Teil einer Gemeinschaft ist, muss man seine Vorstellungen verbiegen, und genau das soll man doch eben nicht. So leben wir alle unverbogen und unverbunden auf je einer kleinen Insel, umgeben von tausenden weiteren. Es sollte noch nicht einmal heissen „wir leben“, es sollte heissen: Ich lebe. Oder noch konkreter: Ich lebe allein. Individualisierung bedeutet Alleinsein. Jeder allein – mit seinem eigenen Göttlein.

Der Trend weg von der kirchlich geprägten Gemeinschaft wird wohl weitergehen. Aber es muss uns bewusst sein, was wir dabei riskieren: Eine starke, vereinte, unterstützende Gemeinschaft, die uns etwas gibt, an das wir glauben können, und die gerade in schwierigen Zeiten Schutz bietet und Kraft spendet. Diese leitende Kraft war im Westen so lange die christliche Kirche, dass es kaum einen geeinten Ersatz für sie gibt. Viele, die sich von ihr abwenden, gewinnen dabei neue Freiheiten. Aber Freiheit bedeutet auch Chaos und Unkontrollierbarkeit. Früher bedeutete Freiheit „Auferstehung ins Paradies“. Heute bedeutet Freiheit „freier Fall“.

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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer (r.federer@rgzh.ch)

Weitere Informationen zum Zürcher Realgymnasium Rämibühl unter www.rgzh.ch

Wenn Journal 21 wirklich einmal den Jungen das Wort geben will, dann müsste dieses nicht ausgerechnet einer Vertreterin einer Minderheit gegeben werden, die im religiösen Mief der Grossväter gefangen ist.

Liebe Frau Beeli
Danke für Ihren hervorragend geschriebenen Artikel!
Ich verstehe die Kernaussagen etwas anderes als die meisten der vor mir Kommentierenden. Meiner Meinung nach kritisieren sie zwar die Kirche - unter anderem eben genau dafür, dass die sogenannte "göttliche Ordnung", die in Tat und Wahrheit eine Erfindung der Obrigkeiten war - so lange zur Unterdrückung der "normalen Menschen" missbraucht wurde - bedauern aber gleichzeitig, dass es heute keine geeinte Gemeinschaft mehr gibt.
Von besonderer Bedeutung erachte ich ihren letzten Abschnitt, wo sie sagen, dass uns durch den Wegfall der religiösen Einheit in schwierigen Zeiten eine Schutzlosigkeit droht. Hier stimme ich ihnen zu: Was können wir in unserer Fragmentiertheit einer Religionsgruppe wie dem Islam, respektive den Dschihadisten, in einer Bedrohungslage entgegensetzen, wennn letztere bereit sind, geeint in ihrer Vorstellung von "Auferstehung ins Paradies" gegen die indiviualisierte, vollends fragmentierte "Gesellschaft", die ja eben keine Gesellschaft mehr ist, sondern eine Häufung von Einzelinseln, in den Kampf zu ziehen? Das bedeutet dann wohl unseren drohenden Untergang - und das meinen Sie wohl auch mit "freiem Fall": Frei ja, paradoxerweise, aber dennoch zum Fallen und Scheitern verurteilt, angesichts der Übermacht derjenigen, die vereint bereit sind, für ihr jenseitiges Seelenheil in den Kampf zu ziehen.

Genau! Jedem das Seine! Auch weil Gott so vielleicht obsolet geworden ist. Und die Religionsforscher auf der Suche nach dem Numinösen immer wieder zu neuen Erkenntnissen kommen. Und für besagten Jesus archäologisch und in den Schriften der damaligen Chronisten - die ansonsten aber auch über jede umgefallene Olivenpalme berichteten - ausser 40 Worten, die damals wie oft üblich auch könnten gelogen und gefälscht eingefügt worden sein, leider kein Nachweis gefunden werden konnte. Wie von vielen der alttestamentarischen Grössen, Orten und Geschichten übrigens beim besten Willen auch nicht. Und das kann man dem Volk dann so natürlich nicht verklickern, sondern das dürfen sie wie beim Samichlaus, dem Christchindli und dem Osterhasen ab einem gewissen Reifegrad selber herausfinden, dass es die auch nicht gibt, was sie aber nichtsdestotrotz später dann nicht davon abhält, genau die selben Fantasiemärchen wieder ihren eigenen Kindern glaubhaft vorzugaukeln. Humanoide Initiationsrituale. Da hilft nur noch Wissenschaft. Einstein sagte dazu: "Gott würfelt nicht" und Gödel meinte ganz richtig: "Gott rechnet!"
Nicht nur dies hat dann einen späteren Physiker-Mathematiker Kollegen von den beiden, Thomas Campbell angespornt, das Ganze Gott-Realität-Bewusstsein-und-Wunder-Ding mit all seinen Phänomenen 35 Jahre lang und im Labor wissenschaftlich genau zu untersuchen und kommt zum selben Schuss wie das NT; "Liebe". Seine Bücher Trilogie davon, die er zudem gratis zum downloaden zur Verfügung stellt, heisst: "My Big TOE" und erklärt m. E. Gott, Bewusstsein und Realität wissenschaftlich am besten.

Liebe Sara, Ihr Text ist gekonnt formuliert und regt zum Denken an. Persönlich bin ich ganz glücklich, dass die sog. Göttliche Ordnung seit längerem hinterfragt wird und es dadurch gelang, mittelalterliche Machtstrukturen aufzubrechen (der Bischof steht über dem Bauer, der Mann über dem Mädchen, etc).
Der CH-Film "Die Göttliche Ordnung" illustriert eindrücklich, wie unzeitgemäss eine solche fixe und unhinterfragte Ordnung ist.

Sie haben natürlich Recht, wenn Sie feststellen, dass wir mit der Abkehr vom christlichen Glauben bzw. mit der Hinwendung zum eigenen Göttlein nicht nur gewinnen, sondern auch Schönes und Sinnstiftendes verlieren.

Die Schlussfolgerung, dass unsere Freiheit ein "freier Fall" ist, erstaunt mich jedoch.

Toll, dass hier erscheint, wie Sara Beeli denkt und empfindet. Mögen andere Jugendliche auch den Mut haben zu formulieren, was sie denken. Ein ins-Gespräch-Kommen über dieses Thema wäre interessant, doch ist das Format hier dafür nicht geeignet (keine Kritik, nur eine Feststellung).

die christliche Kirche (ob evangelisch oder katholisch) ist an diesem Niedergang nicht ganz unschuldig - wenn nicht sogar die Hauptschuldige!
Warum?
Alle 500 Jahre gab es in der ursprünglich "eine, heilige, apostolische & katholische" Kirche -mit dem Allein-Selig-Mach-Anspruch- eine Revolution, Reformation oder eben eine Spaltung! Diese Tatsache die sich offenbar zur geschichtlichen Rekapitulation auch im Jahr +/-2000 wiederholt, scheint die röm.-kath. Kirche im Vatikan noch nicht gemerkt zu haben!
De jure ist sich die Kirche einig, de facto ist sie seit ca. 1970 mehr denn je gespalten! Die Kontinuität der Hermeneutik scheint sich länger je mehr in Luft aufzulösen. Eine so grosse Diskrepanz innerhalb der kath. Kirche gab es über 200 Jahre nicht mehr! Warum will dies -von der Kirchenleitung, weil sehr überheblich oder einfach zu selbstsicher statt selbstkritisch- ROM, der Vatikan und die ganze Hierarchie totschweigen oder einfach nicht wahr haben? Will man eine Spaltung wie bei der Reformation oder was ist die Absicht?

Liebe Sara
Die Kritik, ja Ablehnung des Christentums muss nicht unbedingt Vereinsamung und Rückzug auf ein eigenes Göttlein bedeuten, im Gegenteil!
Vielleicht dazu für Dich zwei Buchempfehlungen:
- Denn sie wissen nicht, was sie glauben oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann; eine Streitschrift von Franz Buggle
- Schatten über Europa, der Untergang der antiken Kultur von Rolf Bergmeier.
Herzliche Grüsse
Andreas Mathys

Wer sucht der findet!
Ein Lausbube, ein zukünftiger Rebell fahndete nach seinen wahren Vater und fand ihn. Nach Festivitäten in Jerusalem suchten jedoch seine Eltern nach ihm, er war mit einer Bande Jugendlicher partiemachend unterwegs gewesen! Später trafen sie Jesus bei staunenden Rabbinern auf der Tempelanlage. Er als junger Aramäer sprach fliessend hebräisch, war zudem ein äusserst kluger Junge der alle in Erstaunen versetzte. Unser aller Jesus von Nazareth! Er gründete keine Kirche, sehr viel später, erst nach seinem Tod tat man es, um die Evangelien an Gleichgesinnte zu verbreiten. Es ist die Botschaft, jene Wahrheit die uns fasziniert. z.B. Nicht ich, sondern dein Glaube an meinen und unseren Vater hat dich geheilt. Oder auch: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Liebt alle Wesen und Dinge dieser Welt, denn sie sind Teil von euch. Durch mich kommt ihr zum Vater, er meinte damit zum Ursprung aller Wesen und Dinge, zu einer Wahrheit die für den Menschen nicht so leicht zu verkraften ist. Ja, sagen Sie mal einem Vegetarier, dass es auch fleischfressende Pflanzen gibt! Die Evolution hat den Menschen ausgesucht, er wird in sehr langsamen Schritten sich dem Schöpfer annähern und verstehen lernen. Der christliche Glaube, wenn man ihn nicht allzu eng sieht, bleibt eine der grössten Errungenschaften! Obwohl, oder gerade weil er vor zweitausend Jahren durch einen jüdischen Jungen in die Welt gekommen ist. Seine Weisheiten sollten uns alle verbinden und Ihnen danke ich für Ihren Text, der sehr gut und sehr schön ist… cathari

Liebe Sara,
Dein Beitrag gefällt mir, es hat gute Gedanken drin. Ein Satz ist mir aufgefallen und den kann ich in keiner Weise unterstützen. Du schreibst:
"Man konnte sich als einfacher Bauer nicht einfach nehmen, was man wollte, sondern war an die göttliche Ordnung gebunden, die jedem Menschen einen von Gott zugeteilten Platz in der Gesellschaft zuwies."
Meiner Meinung nach machte vor allem die Kirche die Bauern glauben, dass es eine göttliche Ordnung ist, die ihnen den Platz zuweist. Das war aber mitnichten so, denn die Fürsten, Grafen und sonstige selbsternannte Herrscher teilten den Bauern einen Anteil zu, und der war meist kaum genug zum Ueberleben. Sie waren Abhängige von den Obrigkeiten. Vor allem auch die Kirche sorgte dafür, dass die Bauern und "die niedrigen Stände" nicht zu laut wurden und mehr Rechte einforderten. Lies einmal die Geschichte zu den Bauernkriegen um 1560 und auch später. Damals hat man den Leuten, die nicht zum damaligen "Establishment"gehörten, auch das Recht auf Bildung verweigert, damit sie weiterhin glaubten, was man ihnen auftischte im Namen der "göttlichen Ordnung".

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