Können Roboter improvisieren?
Das grösste aber ist ein philosophisches. Astro Teller (Nomen est Omen), der Leiter des Forschungslabors von Google (Enkel des Physikers und Atombombenbauers Edward Teller), umschreibt es kürzlich so[i]: „Als wir anfingen, konnten wir nicht 10000 Dinge auflisten, die man berücksichtigen muss, um ein Auto selbständig fahren zu lassen. Natürlich kannten wir die obersten 100 Dinge. Aber ziemlich gut und sicher heisst meist nicht gut und sicher genug. Wir mussten das Labor verlassen und herausfinden, was auf der Liste der 10000 Dinge stehen soll. Wir mussten alle realen Situationen erkennen, in welche unsere Autos geraten können. Und diese Fertigung einer Liste ist in einem ganz gewichtigen Sinn die eine Hälfte des harten Problems, ein selbständig fahrendes Auto zu bauen.“
Ingeniosität und Intuition
Man kann Tellers Problem so auf den Punkt bringen: Können wir einen Automaten bauen, der schliesslich wie wir Menschen den Eventualitäten des Alltags gerecht wird, also improvisieren kann? Google Cars bewältigen bereits eine Menge recht raffinierter Aufgaben, aber sie sind weit entfernt von dem, was man Alltagstauglichkeit nennt.
Was meinen wir eigentlich damit? Nun, ein gewisses Mass an flexiblem Fahrverhalten, Improvisationsvermögen, gesundem Menschenverstand. Alan Turing hatte wohl dies im Sinn, als er zwischen maschineller „Ingeniosität“ und menschlicher „Intuition“ unterschied. Auf vielen Gebieten unseres alltäglichen Handelns, so Turing, liesse sich Intuition durch Ingeniosität ersetzen. Aber er sah zugleich auch Grenzen der Anwendung von Ingeniosität. Es würde immer Nischen geben für die menschliche Intuition und Improvisation, für „spontane Urteile, die nicht aus bewussten Zügen des Denkens resultieren“. Improvisation bedeutet ja vom Wortstamm her das Gegenteil des Vorhergesehenen, also das Nicht-Programmierte. Insofern mutet die Aufgabe, eine improvisierende Maschine zu bauen, zunächst einmal wie eine schreiende Contradictio in Adjecto an: Man müsste auf Tellers Liste der 10000 Dinge auch jene Dinge setzen, die sich nicht auf die Liste setzen lassen!
Das Rahmenproblem
Nun sind wir Menschen ja – um es einmal computerzentrisch zu formulieren – Wunderwerke an Automatismen, mit Verhaltensprogrammen, die sich selber ändern können. Aber lässt sich unser ganzes Verhaltensrepertoire tatsächlich algorithmisch ausbuchstabieren?
Bereits die frühe Künstliche-Intelligenz-Forschung hatte ihre Probleme mit dem Algorithmisierungsanspruch. Eines der ersten war das sogenannte Rahmenproblem („Frame Problem“). Es lässt sich anschaulich am Bau eines alltagstauglichen Roboters exemplifizieren. Darunter wollen wir einen Automaten verstehen, der nicht bloss lokale spezifische Aufgaben wie Rasenmähen, Staubsaugen, Verschweissen von Autobestandteilen oder chirurgisches Eingreifen durchführt, sondern sich in banalen Situation zu „benehmen“ weiss, also eine Plastizität des Verhaltens entwickelt, wie sie unter uns Menschen als selbstverständlich erscheint. Das Haupthindernis, so stellte sich schon früh heraus, besteht darin, dass man einen solchen Roboter mit einer schier unendlichen Enzyklopädie von Situationen und Skripten ausrüsten müsste, wie er sich in dieser oder jener Situation zu verhalten hat – eben die „10000 Dinge“ Tellers. Die trivialsten täglichen Verrichtungen – mich ankleiden, Milch im Kühlschrank holen, ein Verkehrssignal beachten, mich in einer Menge von Passanten kollisionsfrei bewegen, gewisse Anstandsregeln beachten - müssten letztlich in Datenbanken und Programmen „ausbuchstabiert“ werden: zwar ein ingenieural formulierbares, aber von seiner Praktikabilität her gesehen wohl aussichtsloses Unterfangen.
Die Welt als Datenbank
Die Welt der alltäglichen Dinge – dazu gehört die Umgangssprache - ist zu komplex, als dass sie sich in eine noch so umfangreiche Datenbank komprimieren liesse. Das Rahmenproblem deutet darauf hin, dass Improvisation etwas zu tun hat mit einem impliziten Hintergrund von Anhaltspunkten, Relevanzkriterien, unscheinbaren Schlüsselmerkmalen und Hinweisen, an denen wir uns immer schon orientieren, und die kaum je vollständig explizite aufgelistet werden können, auch nicht mit Datenkomprimierung. Diese alltagskompetente Orientierungsfähigkeit steckt in dem, was die Technik womöglich nie einholen wird: in unserem Körper. Die Programme unserer Verhaltenssteuerung sinken ab in die Routinen unseres Körpers. Die Alltagskomplexität wird bewältigt durch Fähigkeiten, die wir im Laufe unserer Sozialisierung lernen und inkarnieren. Das heisst, Improvisation beruht auf sozialer Intelligenz. Natürlich können wir uns dieses Hintergrunds partiell bewusst werden, etwa dann, wenn wir uns in ungewohnten Situationen befinden oder gegen einen Comment verstossen. Gerade dann müssen wir uns die Regeln des Umgangs in Erinnerung rufen. Aber der normale Verlauf unserer sozialen und kulturellen Integriertheit liegt gerade darin, dass wir dieses „Programm“ nicht ständig abrufen müssen, um unser Verhalten zu steuern – es sei denn, wir wären sozial gestört. Und so verhalten sich denn die Automaten bisher auch: wie Autisten.
Programmierte Poesie
Das bedeutet nicht, dass es prinzipiell unmöglich wäre, Programme zu entwerfen, die quasi aus ihren gelernten Routineschleifen ausbrechen können. Es gibt bereits Software für die Jazz-Improvisation; auch Software, die zum Beispiel aus einem vorgegebenen Wortschatz neue Wortkombinationen kreiert. Ein finnisches Team entwickelte kürzlich „DeepBeat“, ein lernendes Programm, das aus der Struktur bestehender Rap-Texte neue zusammenschnipselt. Es bedient sich dabei bestimmter statistischer Auswahlkriterien, also im Grunde des Zufalls, ohne die Bedeutung der Worte zu kennen, und man kann sich natürlich fragen, ob der Sinn der Improvisation sinnloses Zufallsgewürfel sei. Die meisten improvisierenden Musiker würden das rundweg bestreiten. Gedichtautomaten, ein anderes Beispiel, sind ein wiederkehrender Topos der Literatur. In George Orwells „1984" taucht der „Versifikator" auf, der Lieder schreibt. „Das Gedicht ist eine Maschine aus Worten“, meinte der grosse amerikanische Schriftsteller William Carlos Williams. Einer der grossen Meister der deutschen Lyrik, Gottfried Benn, hegte eine ähnliche Idee über die Produktion von Gedichten. Hans Magnus Enzensberger präsentierte im Jahre 2000 an einem Poesie-Festival Erzeugnisse seines "Poesieautomaten": mittels Software verfasste Gedichte. Hier ein Beispiel:
Überflüssige Erpressungen der Gremien, dieser fieberhafte Kunstgenuss am Wochenende und diese vorgedruckten Zahlungsbefehle: Schleierhaft!
Im Grunde langweilt uns doch manches.
Einstweilen lediglich würgende Lügen. Pünktlich einschrumpfen! Einflüsterungen: („Deine Freunde sind wieder so spiessig.")
Im Hinterkopf Nullsummenspiele.
Die richtige Frage
Über die Qualität solcher Elaborate lässt sich trefflich streiten. Aber das ist letztlich ermüdend und unfruchtbar. Enzensberger selbst mass seiner Zufallslyrik kaum Bedeutung bei. Immerhin zeigte er sich überrascht, dass die Texte „etwas sehr Enzensbergerisches" hätten: „Es ist ein Spiel. Wie weit man es mit Sinn auflädt, hängt vom Betrachter ab. Es können Gedichte entstehen, die jemandem was sagen."
Als ergiebiger erweist sich eine allgemeinere Frage, die immer mehr an Dringlichkeit gewinnt, nämlich, ob Kreativität etwas an Maschinen Delegierbares sei. Seit dem Faustkeil teilt der Mensch die Arbeit mit Artefakten, zu seinem Guten wie zu seinem Schlechten. Zur Debatte steht nunmehr das menschliche Ingenium, das wir bislang als Demarkationsmerkmal gegenüber den Maschinen beansprucht haben. Es gibt Enthusiasten der Automatisierung, welche eine solche Abgrenzung als „Humanchauvinismus“ abkanzeln. Andere befürchten, dass uns die Maschinen schliesslich auch noch die kreativen Jobs abnehmen würden.
Können Roboter improvisieren? Das ist nicht die Frage. Die Frage ist die nach neuen und sinnvollen Symbiosen zwischen Mensch und Computer. Und diese Frage stellt einstweilen noch der Mensch - Zeit, dass wir unsere kreativen Energien in sie investieren. Ich wage eine Prognose: Der Mensch wird sich dabei selber neu entdecken.
[i] https://medium.com/backchannel/how-to-make-moonshots-65845011a277
Natürlich können Roboter improvissieren (und Gedichte schreiben und komponieren)! Und sie tun das nicht immer schlechter als ein Mensch. Auch der Mensch ist fähig, fürchterlich schlecht zu improvisieren.
Zweifellos können Roboter improvisieren. Die einzigen Fragen sind "wie gut" und "wann auf welchen Gebieten vergleichbar mit Menschen."
Nachdem ich genauere Berichte über das Verhalten des Google Autos im Stadtverkehr studiert habe, würde ich mich eher in dieses Auto setzen als mit Krethi oder Plethi am Steuer!