„Nicht aufgeben!“

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„Nicht aufgeben!“

Von Journal21, 20.03.2020

Unsere Autorin Birgit Eger Bertulessi wohnt mitten in der Provinz Bergamo. Das Städtchen bei Mailand ist zurzeit einer der schlimmsten italienischen Infektionsherde. Heiner Hug sprach mit ihr.

Journal21.ch: Birgit, bist Du gesund?

Birgit Eger Bertulessi: Ja, ich habe Glück, ich bin gesund. Aber die Situation ist dramatisch.

Du bist Lehrerin an der Schweizer Schule in Bergamo *). Wie habt Ihr auf den Ausbruch der Epidemie reagiert?

Das Virus brach während der Sportferien aus. Wir haben von einem Tag auf den anderen entschieden, die Schule zu schliessen. Jetzt unterrichten wir online. Das funktioniert gut. Ich arbeite klar mehr als früher. Natürlich gibt es kleinere Probleme. Nicht alle haben einen Computer, nicht alle konnten sich einloggen. Aber wir arbeiten zusammen, Team, Schülerinnen und Schüler und natürlich auch die Eltern, und kommen weiter. Learning by doing.

Es gibt nicht viele Journalisten in Bergamo; sie haben Angst, angesteckt zu werden. Du sitzt mittendrin, sozusagen mitten im Auge des Zyklons. Wie präsentiert sich die Situation?

Schrecklich. Wir sehen riesige Kolonnen von Militärfahrzeugen, alle beladen mit Särgen. Das Krematorium in Bergamo ist überlastet und kann nicht mehr alle Toten der Stadt kremieren. So werden die Särge ins Krematorium von Crema gefahren, einem Städtchen südlich von Bergamo.

Auf dem Friedhof spielen sich gespenstische Szenen ab. Immer wieder kommen neue Särge an. Die Toten werden in aller Stille beerdigt, denn nur die allerengsten Angehörigen werden zugelassen. Manchmal ist während der Beerdigung ausser dem Totengräber gar niemand anwesend.

In Italien sind bisher fast 3’500 Menschen gestorben, mehr als in China. Allein heute wuden in Italien offiziell 627 Tote gemeldet. Die Lombardei und vor allem der Raum Bergamo-Brescia sind im Moment am schlimmsten von dem Virus betroffen. Innerhalb eines Tages gab es jetzt in der Lombardei 2271 neue Infektionen. Auch Ärzte sind infiziert. Täglich sterben in unserer Region über 200 Menschen.

Wie oft gehst Du aus dem Haus?

Fast nie.

Herrscht eine totale Ausgangssperre?

Ja, endlich. Die meisten Leute sitzen zuhause in Quarantäne. Wer seine Wohnung oder sein Haus verlässt, muss ein offizielles Dokument mit sich tragen. Diese Formulare, „autocertificazione“ genannt, wurden allen Einwohnerinnen und Einwohnern zugestellt. Man muss darauf eintragen, weshalb man nach draussen will. Zum Beispiel: Besuch der Apotheke, einkaufen, Besuch der alten Eltern. Die Sicherheitskräfte machen Kontrollen. Wer ohne ein solches Dokument im Freien erwischt wird, bekommt eine Strafanzeige, habe ich gehört, man zahlt eine Busse von bis zu 200 Euro. Doch fast alle halten sich an die Vorschriften. In den letzten zwei Wochen wurden in Bergamo nur wenige Bussen verteilt.

Ist Bergamo eine Geisterstadt?

Ja. Die Strassen sind fast leer. Die Autobahn zwischen Mailand und Bergamo erstickt normalerweise im Verkehr. Jetzt ist sie leergefegt. Man könnte ein Picknick mitten auf der Fahrbahn veranstalten.

Wie sieht es in den Supermärkten aus?

Man lässt jeweils nur wenige Leute aufs Mal hinein. Die Menschen zeigen eine unglaubliche Disziplin. Sie warten vor dem Supermarkt in Schlangen und halten Abstände von je zwei Metern oder mehr. Alle sind ruhig und gefasst.

Gibt es genug zu kaufen?

Das ist nicht das Problem. Die Gestelle sind gut gefüllt. Ja, auch hier gab es Hamster. Aber die Versorgungslage ist gesichert. Ich kriege alles, was ich will. Zum Beispiel beim Metzger bei uns im Ort am Dorfplatz hat ein Bäcker auch noch einen Korb Brote hingestellt, gratis.

Helfen sich die Leute gegenseitig?

Ja, und wie. Das ist wunderbar. In der Not stehen die Leute zusammen. Die Nachbarschaftshilfe funktioniert gut. Wir sprechen uns untereinander ab. Da man möglichst wenig ins Freie will und darf, wechselt man sich ab. Mal geht diese Nachbarin in den Supermarkt, mal jener Nachbar. Man kauft dann für mehrere ein und verteilt die Ware. Viele zivile Helfer sind im Einsatz. Hausfrauen und Restaurant-Köche bereiten unentgeltliches Essen für Bedürftige vor. Man telefoniert alten, einsamen Leuten, damit sie sich nicht so allein fühlen. Ich habe gehört von einer Theatergruppe, die den Kindern auf Wunsch eine Geschichte erzählen, aber kein Video auf Youtube, sondern direkt für das einzelne Kind erzählt, wie eine Art „Märli-Pizza-Service“.

Was tut man den ganzen Tag zuhause?

Ich sitze zwölf Stunden am Computer. In der Mittagspause oder am Abend spaziere ich mit meinem Mann um unseren Block herum, um etwas frische Luft zu schnappen.

Warum ist jetzt gerade Bergamo der italienische Seuchenherd Nummer eins?

Als die Seuche am 22. Februar im Städtchen Codogno südlich von Bergamo ausbrach, wurde die Gegend um Codogno sofort zur Roten Zone erklärt. Das heisst, die Leute durften die Häuser nicht mehr verlassen und niemand durfte in die Zone hinein oder hinaus. Es herrschte Ausnahmezustand.

Als dann das Virus in Alzano Lombardo und Nembro nördlich von Bergamo ausbrach, erwarteten wir, dass auch diese Gebiete sofort zur Roten Zone erklärt würden. Wir alle haben uns darauf eingestellt und darauf vorbereitet. Doch nichts geschah.

Gibt es Informationen, weshalb sich die Seuche plötzlich in Alzano verbreitete?

Der Ausbruch in unserer Gegend ist möglicherweise auf einen schlimmen Fehler im Spital von Alzano Lombardo zurückzuführen. Ein Chefarzt war mit dem Virus angesteckt worden und steckte weitere Ärzte, einen Pfleger und Patienten an. Möglicherweise liegt hier der Ursprung der jetzigen, schrecklichen Lage. Zurzeit wird spekuliert, wie das Virus in das Spital kam. Kam es von einem Chinesen, der im Spital gepflegt wurde? Die Lombardei ist eine Industrieregion und ist mit dem Ausland stark verflochten. Auch viele Chinesen kamen hierher.

Es gab ein Hin und Her. Dann kam das Militär und riegelte einige Gebiete ab, dann waren die Soldaten plötzlich wieder weg. Die lokalen Behörden, auch Giorgio Gori, der Bürgermeister von Bergamo, schlugen Alarm. Eine Woche verstrich – nichts geschah.

Hätte man schnell eine Rote Zone ausgerufen und durchgesetzt, hätte man die Ausbreitung des Virus nicht verhindern, aber doch auf tieferem Niveau halten können. Mit strengen Massnahmen hätte man Leben retten können. Doch Rom wollte nicht.

Weshalb nicht?

Darüber wird hier heftig spekuliert. Einige sprechen von Kommunikationspannen, andere geben der Römer Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte die Schuld. Er habe die Wirtschaftsleistung nicht ganz herunterfahren wollen, heisst es. Was auch immer. Auch die lokale Wirtschaft wehrte sich gegen drastische Massnahmen, weil sie dadurch viel Geld verliert. Wir hätten Massnahmen benötigt wie sie Südkorea verordnete. Hätte man Südkorea zum Vorbild genommen, wären wir heute an einem anderen Punkt. Rom hat inzwischen den Fehler erkannt und spricht von einer „bedauernswerten Panne“. Dass man in Rom die dramatische Lage bei uns zu spät erkannte, mag auch darin liegen, dass in der Hauptstadt viel weniger Leute am Virus sterben als bei uns.

Die Spitäler sind an der Kapazitätsgrenze. Wie geht man damit um?
Etwas muss man betonen: Was unsere Behörden, unser medizinisches Personal und unsere Helfer hier in der Region Bergamo geleistet haben, ist einmalig. Das muss man erst einmal machen. Am Anfang hiess es, drei Spitäler würden für die Infizierten genügen. Dann häuften sich die Fälle und die ursprünglich vorgesehenen Krankenhäuser waren überfordert. Jetzt verordnete man, dass in jedem kleinsten Spital mindestens ein Stockwerk zur Behandlung von Corona-Infizierten freigelegt werden muss. Aber natürlich genügt das noch immer nicht. Einige der Kranken werden in andere italienische Regionen verlegt. Doch diese haben keine grosse Lust, Infizierte aufzunehmen.

Jetzt wird auch auf dem Messegelände Bergamo ein Feldspital mit 200 Betten eingerichtet. Man versucht jetzt, das nötige medizinische Personal aufzubieten und an das nötige medizinische Material zu kommen. Das lässt auf sich warten, was den Bürgermeister in Wut versetzt. Er sagte gestern, in Bergamo seien in den ersten zwei März-Wochen viermal mehr Leute gestorben als während des ganzen letztjährigen Monats März.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung? Ist man wütend auf Rom, ist man fatalistisch?

Es gibt die ganze Bandbreite. Ja, viele sind wütend auf die Regierung Conte, weil sie zu lange gezögert hat, drastische Massnahmen zu ergreifen. Das war ein Fehlentscheid, den einige jetzt mit dem Leben bezahlen. Doch die meisten Leute, die ich hier kenne, machen sich Mut. Sie sagen, das geht vorbei, wir schaffen das. Man hält sich an die Regeln.

Man will sich Mut machen. Da und dort hängen auch Zettel und kleine Plakate. Darauf steht: „Andrà tutto bene“, alles wird gut herauskommen. Oder: „Everything will be fine“. Im Stadion des Fussballclubs Atalanta-Bergamo wurde ein riesiges Plakat aufgezogen, das nachts sogar beleuchtet ist. Die Leute können es von ihrem Balkon aus sehen. Darauf steht: „Molamia“. Das heisst: non mollare, nicht aufgeben. Mein Mann Giuseppe sagt allerdings, statt aufmunternder Worte der Atalanta-Tifosi hätte er sich lieber ein rigoroses Eingreifen der Zentralregierung in Rom gewünscht.

Trotzdem muss man sagen, dass die Regierung von Ministerpräsident Conte vieles richtig macht. Seine Popularität steigt denn auch. Die Zeitung La Repubblica ermittelte gestern, dass 71 Prozent der Italienerinnen und Italiener hinter ihm stehen. Einen solchen Popularitätswert hatte, so glaube ich, kaum je ein italienischer Regierungschef.

In mehreren Städten erschienen am Wochenende viel Italienerinnen und Italiener an den Fenstern, sangen und machten Musik. Gibt es das in Bergamo auch?

Nein, uns ist die Lust auf Singen vergangen.

Giorgio Gori, der Bürgermeister sagte in einem Interview: Nutzt die Zeit gut, die ihr noch zur Verfügung habt. Das klingt ja nicht gerade vielversprechend.

Ist es auch nicht. Die Frage ist, wie lange das alles noch dauert. Bekannt wurde heute, dass die Schulen länger geschlossen bleiben als bisher geplant. Man hatte gehofft, sie am 3. April wieder öffnen zu können. Jetzt entschied man, dass es mindestens Mai werden würde. Einige rechnen damit, dass die Situation bis im September andauert.

Es heisst, in Mailand würde die Ausgangssperre nicht rigoros befolgt.

Gestern besuchte der Vizepräsident des chinesischen Roten Kreuzes die Lombardei. Er sagte, in Mailand seien noch allzu viele Leute unterwegs. Doch Bergamo ist nicht Mailand. Hier bei uns wird jetzt der Ernst der Lage wirklich erkannt. Hier ist die Botschaft angekommen. Es gibt nur eines: drastische Massnahmen wie in Südkorea.

Gefragt sind auch gute Ideen, wie man trotz allem das Leben gestalten kann, mit Einschränkungen zwar, aber im Sinne einer Gemeinschaft, die ihre Risikogruppen schützen will. Wenn wir das schaffen, wenn wir durchhalten und die Einschränkungen strikte akzeptieren, dann werden wir diesen unsichtbaren Feind bezwingen. Das wird leider nicht morgen sein.

*) Birgit Eger Bertulessi ist in der Schweizer Schule in Bergamo Klassenlehrerin einer vierten Klasse. Sie unterrichtet alle Fächer ausser Italienisch und Englisch. Ihre Klasse besteht aus 19 etwa zehnjährigen Schülerinnen und Schülern. Viele von ihnen haben internationale Eltern. Auch Kinder mit Schweizer Eltern gibt es, allerdings weniger als früher. Insgesamt unterrichtet die Schweizer Schule in Bergamo etwa 200 Kinder im Alter von drei bis 15 Jahren.

Bergamo liegt nordöstlich von Mailand in der Lombardei. Die Stadt hat 120’000 Einwohner. Sie besitzt eine Universität und eine Schweizer Schule, an der Birgit Eger Bertulessi lehrt. Die Stadt lebt vor allem von der chemischen Industrie, vom Stahlbau, der Produktion von Baumaterialien und besitzt mehrere Forschungsinstitute. Die Arbeitslosigkeit liegt weit unter dem italienischen Durchschnitt. Die Oberstadt, die Città Alta, steht unter Denkmalschutz und ist eine der grössten Touristenattraktionen der Lombardei. Die venezianischen Stadtmauern gehören zum Unesco-Welterbe. Der Architekt Le Corbusier bezeichnete die Stadt als „verehrenswürdige Unbekannte“ und nannte die Piazza Vecchia „einen der schönsten Plätze der Welt“. (hh)

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Sehr geehrte Frau Bertulessi,
ich weiß, dass klingt wahrscheinlich nicht sehr hilfreich, aber Sie haben etwas in Bergamo, was ich sowohl hier im Tessin als auch in Deutschland sehr vermisse: Solidarität, wenn es darauf an kommt.

Warum sagen ich das Ihnen?
Ich bin Deutsche und wohne seit 4 Jahren im Tessin, arbeite aber ab und an in D, habe eine kleine Wohnung dort. Am Sonntag habe ich mit einer Freundin in der Nähe von Como telefoniert. Was mich bewegt hat, war, dass alle versuchen sich an die an Regeln zu halten und sich gegenseitig zu helfen. Trotzdem konnte man die Schwere der Bürde dieses Landes spüren. Corona wird sicherlich bei uns allen in unsere Zeitrechnung eingehen und schon jetzt spricht man von der Zeit davor und nach Corona. Irgendwie empfand ich das Telefongespräch als bedrückend, obwohl nicht ”geklagt” wurde. Ich bin am nächsten Tag aufgewacht und hatte die Idee, dass wir, als Deutsche in Deutschland, die Italiener moralisch unterstützen könnten. Ich will an diesem Punkt nicht weiter auf das Unvermögen der EU eingehen, an einem gemeinsamen Strang zu ziehen. Sehr traurig!
Also habe ich mich an den PC gesetzt und folgenden Aufruf auf der Webseite einer Seite für Nachbarschaftshilfe veröffentlicht: Liebe NachbarInnen, heute Morgen bin ich aufgewacht und dachte sofort an Italien. Das liegt daran, dass ich eine Freundin dort habe, mit der ich gestern telefonierte. Die Situation in Italien ist nicht nur angespannt, das Land befindet sich im Krieg, im Krieg gegen Coronavirus. Vielleicht für manchen unvorstellbar, was dort passiert. Stellt euch vor, deine Oma/Opa oder deine Eltern erkranken, es muss nicht unbedingt Coronavirus sein, aber sie bekommen keine Luft mehr. Du weißt, fährst du mit ihr/ihn ins Krankenhaus, siehst du sie in der momentanen Situation nicht wieder. Also wartest du und hoffst, dass es besser wird. Du sitzt vielleicht bei ihr/ ihm am Bett oder du kannst vielleicht noch nicht mal zu ihr/ihn, weil du nicht darfst/ Angst hast. Irgendwann kommt der Moment, da triffst du die Entscheidung, sie/ ihn abholen zu lassen. Was jetzt kommt, hat man bisher nur im Film gesehen: in Schutzanzügen kommen sie, alles wird abgeriegelt. Sie/Er wird mit genommen, zurück bleibt die/ der Andere, meist völlig verwirrt. Die/ Der Andere ist deine Oma/Opa/ Mutter/ Vater. Und du. Man kann davon ausgehen, dass die/ der Kranke nun ins Krankenhaus kommt, aber aufgrund von Alter/ Vorerkrankungen etc. wird entschieden, sie/ ihn sterben zu lassen mit den Möglichkeiten, die noch bestehen, den Sterbeprozess zu erleichtern. In ihrem/ seinen Todeskampf/ Sterbeprozess wird sie/ er allein sein, keiner wird da sein, der ihr/ihn die Hand hält. Du wirst nie mehr deine Oma/Opa/ Mutter/ Vater sehen. Sie /Er kommen in einen Sarg und die Armee wird sie abholen, weil es anders nicht mehr geht. Ich weiß noch nicht einmal, ob die Familie die sterblichen Überreste in einer Urne zurück bekommt, um sie dann, am Tage 0, beerdigen zu können. Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass in Italien der Tote meist eine Woche aufgebahrt wird, damit jeder gebührend von ihm Abschied nehmen kann. Warum schreibe ich das? Ich schreibe das, weil wir nicht nur für ÄrztInnen und Schwestern/ Pfleger klatschen sollten. Wir sollten Montags immer um die gleiche Uhrzeit für die ItalienerInnen, für Italien klatschen und Musik machen. Malt Plakate mit der italienischen Flagge und hängt sie euch ans Fenster. Italien braucht eure seelische Unterstützung. Keiner wird zurück gelassen- Viva Italia!!!Andrà tutto bene!
Bitte Aufruf auch auf Facebook usw. teilen!

Reaktionen darauf...sehr verhalten. Was ist los mit uns Menschen? Brände in Australien? Interessiert uns nicht. Immigranten in Griechenland, das Land am Kollaps? Interessiert uns nicht. Gottseidank alles weit weg. Ja, man kann nicht überall sein.

Okay. Jetzt haben wir das Dilemma vor der eigenen Tür, im eigenen Land. In D scheint es sozusagen in den eigenen Reihen zu funktionieren, wenigstens in den Städten. Doch vielleicht täusche ich mich, im Tessin passiert wenig. Meine Bemühungen im Kontakt zu bleiben, vielleicht Fahnen, Banner was auch immer zur moralischen Unterstützung heraus zu hängen, scheint zu verhallen. Ich versuche seit 10 Tagen ein Netzwerk aufzubauen. Leider gelingt es mir nicht. Jeder kämpft für sich. Ich bin traurig, desillusioniert. Ich werde nun auch zur Einzelkämpfern, schreibe Briefe wie diese, hänge eine Fahne - Tessin, Italien, Schweiz- raus.

Liebe Frau Bertulessi, ich habe das alles geschrieben, weil Italien in der Not eine Stärke hat, da kann man nur noch den Haut vor lauter Demut ziehen und sich tief verneigen. Andrà tutto bene, vedrai! Forza Italia, Forza Ticino, Forza Svizzera! Chapeau! ,voller Hochachtung, Ihre Bettina Schmidt

Vielen Dank für den Einsicht gestattenden Beitrag. Leider nehmen wohl auch hier in Zürich viele Leute die Gefahr erst richtig ernst, wenn es schon dramatisch ist. Da wir bei der unglaublichen Geschwindigkeit von exponentiellen Entwicklungen mit der Erkenntnis stehts Wochen hinterher hinken, sind solche glaubwürdigen Berichte umso wichtiger. Sie fördern die Empathie und lassen einem realer erahnen, was auch hier bald sein könnte. Noch immer denken viele, dass ist halt dort, hier wird's nicht so weit kommen. Die explodierenden Zahlen lassen schlimmeres vermuten. Leider brauchen die meisten Menschen strikte Vorgaben um das Verhalten zu ändern. Auch untereinander ist es psychologisch schwierig, als erstes eine Ernsthaftigkeit anzusteuern und sich gegen die Problem-Verdrängung oder Verharmlosung zu stemmen. Ich danke für Ihre persönlich Lageschilderung vor Ort. Etwas unnötig fand ich den Hinweis wie das Virus in das Spital kam. "Kam es von einem Chinesen, der im Spital gepflegt wurde?"
Da wir nun wissen, dass viele infizierten Menschen überhaupt keine Symptome bemerken, könnte die Ansteckung total unbemerkt von Ferienrückkehrer über mehrere Personen in das Spital gekommen sein, da gibt es keine Anhaltspunkte für zuweisende Spekulationen. Das Virus kennt keine Nationalitäten, da sollten wir weder auf Chinesen noch auf Italiener zeigen. Jede gesunde Person könnte das Virus schon haben ohne Symptome zu bemerken.
Ich hoffe, dass langsam wirklich alle den Ernst der Lage erkennen und merken, dass wir alle im selben Boot sitzen, Jung, Alt und alle Nationen. Wir schaffen es kaum die Entwicklungen genug ernst zu nehmen. Ich wünsche Ihnen, ganz Bergamo und uns allen, nur das beste!

Lieber Heiner Hug
Ihre Liebe zum Bel Paese rührt mich immer wieder.

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