Klüger sein wollen

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Klüger sein wollen

Von Stephan Wehowsky, 20.07.2015

Die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik ist zum demokratischen Normalfall geworden.

Entsprechend sinkt das Ansehen der Politiker. Von Zeit zu Zeit aber tun sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammen, um dem herrschenden politischen Alltagstrott wirkliche Alternativen entgegenzusetzen. Nur selten geht das so gut wie bei den deutschen Grünen, die für ihren Erfolg aber nach und nach einen hohen Preis gezahlt haben und noch zahlen: Ihre Politiker sind inzwischen ebenso grau und etabliert wie die, gegen die sie mal angetreten sind.

Am rechten Rand wiederum prügeln sich die „Parteifreunde“ wie die Kesselflicker. Marine Le Pen und ihr Vater sind von wüsten Beschimpfungen inzwischen zu Gerichtsverfahren übergegangen, und die Alternative für Deutschland (AfD) hat sich gespalten. Frauke Petri hat Bernd Lucke ausgebootet. Der kluge Professor wollte sich dem rechten Populismus nicht beugen, hat die Partei verlassen und mit seinen nicht wenigen Anhängern die „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“, Alfa, gegründet. Ihr Hauptprogrammpunkt ist das ursprüngliche Kernthema der AfD: der Euro. Ihr Hauptkonkurrent dürfte die FDP sein.

Was lernen wir daraus? Man kann die Politik der deutschen Bundeskanzlerin und ihres Finanzministers, das Taktieren des Chefs der Eurogruppe, die Beschwörungsformeln des Präsidenten des Europaparlaments und die Formelkompromisse des Finanzgruppenchefs für kurzsichtig, widersprüchlich und verhängnisvoll halten. Aber bislang ist es nicht gelungen, dem etablierten Politikbetrieb mit einer konsistenten und durchsetzungsfähigen Alternative entgegenzutreten. Aus dieser Tatsache muss man nicht unbedingt auf die Weisheit der Regierenden schliessen, aber man sollte die Weisheit ihrer Kritiker auch nicht überschätzen.

Wenn die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik zum demokratischen Normalfall geworden ist, liegt der Grund darin, dass die Meinungen der Bürger, von der etablierten Politik nicht im gewünschten Mass beachtet wird. Dass es bisher nicht gelungen ist, in Deutschland, aber auch in der EU, durchsetzungsfähige Alternativen zu entwickeln, liegt wohl weniger am Weisheitsmangel der Politiker und ihren Kritikern, als vielmehr am Fehlen entsprechender, demokratischer Strukturen. Auch Deutschland gehört in der EU zu jenen Ländern, in denen sich die etablierten Parteien mit Händen und Füssen gegen eine formelle und verbindliche Beteiligung der Bürger an den Entscheidungsprozessen wehren. Alternative Lösungen aus der Bürgerschaft, zu jenen der etablierten Parteien, sind in einer parlamentarischen Demokratie weder vorgesehen noch umsetzbar.

Vielen Dank für den feinsinnigen Text und den schönen Schlusssatz.

Der Schlusssatz trägt allerdings die pessimistische Grundannahme in sich, dass man den unzufriedenstellenden Zustand nicht ändern kann … nach dem Motto: nur weil momentan keiner etwas macht, was von Medien breit beachtet wird … wird sich die Situation nie verbessern.
Die Weltgeschichte widerspricht dem aber diametral: sobald die 3 Faktoren „breite Beachtung“ „Verbesserung“ und Zeit miteinbezogen werden.

Ein Beispiel: Die Medien sind voll von Griechenland. Alle sprechen nur über Geld und Kredite.
Den Aspekt: was läuft da eigentlich seit 12 Jahren falsch? was ist zu verbessern? wie schnell kann man das verbessern? … bleibt überproportional unbeachtet.

Warum läuft die öffentliche Diskussion so ernüchternd platt?
a. (These:) Breite Beachtung finden mehr und mehr nur Sachen über die man nicht nachdenken muss.
b. Um herauszufinden was verbessert werden muss und wie, ist -und war schon immer - Bildung und Know-How erforderlich.

D.h. sowohl unsere Staatsformen, als auch ihre immer stärkere hermafrodite Bindung zu Standardmedien (siehe a. ) fördert offensichtlich eine Rückwärtsentwicklung unserer Gesellschaften.
(hermafrodite Bindung = keiner kann mehr unterscheiden ob der Quatsch zuerst von einem Politiker oder von einer Zeitung in die Welt gesetzt („gezeugt“) wurde).

Ich nehme an, dies ist dem Inhalt Ihrer Zwischenüberschrift in etwa gleich.
Die Folgerung ist für mich, dass mehr Wege gefunden werden müssen, sowohl in Regierungen als auch in Medien wieder mehr b. wie a. zu betreiben. Dies könnte den Trend umkehren.

Die USA sehe ich als Paradebeispiel für immer mehr a. als b.: durch immer sinnlosere Staat-Medien-Hermafroditisierung, bei gleichzeitiger Potenzierung von höllenähnlichen Stadtgürteln und Wiedereinführung des offenen Tragens von Waffen am Gürtelhalfter. Und: die meisten amerikanischen Länder ahmen das –leider- meisterhaft nach.

Die Schweiz sehe ich als Paradebeispiel, für mehr b. als a.: Allerdings ist das auch einfacher, mit vollem Staatssäckel über Jahrhunderte… Wohlgemerkt: die Ursache sehe ich in der Tüchtigkeit der vergangenen schweizer Regierungen seit Wilhelm Tell, sowie in deren Wählern.
Wie haben Sie das nur geschafft diese unglückseligen Medien-Diktaturen nicht, oder nicht so stark entstehen zu lassen?

Neulich hörte ich eine sehr schöne Beschreibung aus dem Munde eines jungen uruguayischen Politikers – Gott möge ihm Durchhaltekraft geben-:

„Auf dem offensichtlichen Defizit an Werten, Bildung und bürgerlicher Kultur,
bildet sich eine neue Klasse militanter Führung,
der es gelingt aufzuschwimmen, ohne dass ihr öffentlich
Talente, Tugenden oder Ergebnisse abgefordert werden

und von Ehre … ganz zu schweigen.

Ich freue mich sehr, dass es J21 gibt. Wie könnte man ihr Wirken vergrössern?

Bravo zu ihrem durchdachten Statement. Unterschreibe sofort.
Leider liegt aber auch in der Schweiz einiges im Argen: 1. Die (Bundesrats-) Parteien links wie rechts üben sich in Besitzstands-wahrung und der Verwaltung des Bestehenden. 2. Neues von kreativen Köpfen ist chancenlos, da es nicht in den "öffentlichen" Raum" vordringen darf. Nicht publik machen - ergo verschweigen, befehlen die Grossmogule der Schweizerischen Medienlandschaft.
3. Die Militanz und sture Haltung in einigen Bundesämtern ist eine Tatsache. 4. Schleichender Demokratieabbau ist täglich erfahrbar.
Dennoch: Wer schafft den gewünschten Wandel, wenn nicht unser Land, die Schweiz ? Im Übrigen traue ich in Deutschland der neuen Partei Bernd Lucke's, Alfa, richtungsweisend Fortschrittliches zu.

Kluge Bemerkungen, dem kann man zustimmen. Nur hoffe ich dass das Deutschen-Bashing sich langsam wieder verdünnt. In der Schweiz geht es uns nicht besser. Unsere Wahlen sind seit Jahrzehnten zwar "free but NOT FAIR" wie man im näheren Osten sagt. Neue oder neu aufgemotzte Parteien können sich nur Oligarchen aus der Lebensmittel- oder private equity-Branche leisten.

MfG
Werner T. Meyer

Es ist vieles so unbefriedigend, weil das, was wir gemäss dem letzten Absatz des Autors lernen könnnten, eben gerade nicht ausreicht!

Was wir wirklich bräuchten: Massnahmen welche zur extrem stark gestiegenen Komplexität adäquat sind.

Wenn die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik zum demokratischen Normalfall geworden ist, hat es seine Bedeutung, weil man dann in der Fortsetzung des Gedankens auch den Schluss ziehen könnte, dass sich die etablierte Politik nicht im gewünschten Mass um die Meinungen ihrer Bürger kümmert. Dass es bisher nicht gelungen ist, dem etablierten Politbetrieb in Deutschland, aber auch in der EU eine durchsetzungsfähige Alternative entgegen zu setzen, hängt wohl weniger mit den Weisheiten der Politiker und ihren Kritikern zusammen, als vielmehr am Mangel der demokratischen Verhältnisse. Auch Deutschland gehört in der EU zu jenen Ländern, in denen sich die etablierten Parteien mit Händen und Füssen gegen die Befragungen ihrer Bürger wehren, und in wichtigen Sachfragen mit zu bestimmen. Für alternative Lösungen sind die nötigen Bedingungen in einer parlamentarischen Demokratie eben einfach nicht gegeben.

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