Unregierbares Frankreich

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Unregierbares Frankreich

Von Ulrich Meister, 27.07.2015

Proteste aller Arten, auch gewalttätige, häufen sich in Frankreich. Die Regierung Hollande schaut zu oder krebst zurück.

De Gaulle hatte die anekdotische Meinung, dass ein Land - Frankreich - mit über 350 Käsesorten unregierbar sei. Man möchte ihm in diesen Sommertagen Recht geben, aber nicht wegen den Käsen. Rabiate Taxifahrer wollten sich unliebsame (und nicht ganz legale) Konkurrenten vom Hals schaffen. Die Regierung verbot die billigere Konkurrenz. Die Zigarettenverkäufer stülpten Plastiksäcke über Radargeräte, um gegen die anonymen Zigarettenpakete zu protestieren. Das war, wie der Ärztestreik, nicht gewalttätig. Also reagierte die Regierung nicht. Als hemdsärmelige Bretonen im letzten Jahr kurzerhand die teuren Installationen für die neue Schwerverkehrsabgabe, die ihnen nicht passte, demontierten oder zerstörten, zog sie aber sogleich das entsprechende Gesetz zurück. Zur Freude des Parlaments, das es beschlossen hatte!

Als vor weniger Tagen ebenso verzweifelte wie unzimperliche Bauern mit ihren Traktoren einen Tag lang die Zufahrten zu Lyon blockierten, konnte die Regierung nicht wegschauen. Sie machte Subventionen locker. Aber die Bauern wollten keine Almosen, sondern kostendeckende Preise für ihre Produkte und denunzierten den mörderischen Preiskampf in der EU und unter den einheimischen Grossverteilern. Eine lautlose Tragödie war schon lange im Gang: Abertausenden von Bauernbetrieben droht der schnelle Konkurs, wenn die Preise nicht angehoben werden. Die Regierung hat nichts kommen sehen (wollen). Jetzt entschuldigt sie sich, dass sie die Preise nicht diktieren könne (anderswo tut sie es).

Ein verquerer, überholter Korporatismus, verbunden mit Klientelismus und Regionalismus stellt sich immer wieder korrigierend oder lähmend, und immer lauthals, gegen den jakobinischen Zentralstaat und seine Politikerkaste, die nur an die nächsten Präsidentenwahlen denkt. Frankreich unregierbar? Jede Woche macht ein Minister einen ebenso interessanten wie unausgegorenen Vorschlag, den er in der Woche darauf schleunigst wieder zurückzieht. Frankreich unregierbar? Nein, schlichtweg "unregiert". Bon appetit für die nächste Käseplatte!

Zurück krebsen bedeutet, das man schon mal irgendwo und irgendwie vorangegangen ist. Dazu fällt mir in Bezug auf Mr. Hollande kein Beispiel ein. Es sei denn, man hält großspurige Ankündigungen für einen Schritt vorwärts.

Die Analyse ist grundsätzlich gut, aber (bitte um Verzeihung!) noch allzu viel oberflächlich! Die strukturellen und grundsätzlichen Probleme liegen in Frankreich (dieses Land liebe ich, nicht zuletzt weil meine Gattin von dort kommt, auch weil ich als "Welscher" frankophon bin) wesentlich tiefer, als man es sich vorstellen kann. Was wir alltäglich über die Medien vernehmen (seitens des Präsidenten, des Premierministers, des Landwirtschaftsministers, des Innenministers, der Ökologieministerin, der Justizministerin und dgl.), ist nur dogmatische Schaumschlägerei. Wenn ich an den Vergleich mit Charles de Gaulle denke (der bestimmt nicht über alle Zweifel erhoben ist), so war er bestimmt der letzte Staatspolitiker, den man in Frankreich erkennen und anerkennen muss. Die folgenden waren "mehr Schaum als Bier", um bei der Metaphore zu bleiben. Und gerade das stimmt mich äusserst bedenklich für die Zukunft: Die politischen Strukturen sind derart gestaltet (und bewusst organisiert), dass keine brauchbare Ablösung in Sicht ist. Weder im rechten noch im mittleren noch im extremrechten noch im extremlinken Flügel der politischen Szene. Ich befürchte auch mit gutem Grunde (die Indikatoren sprechen eindeutig für sich!), dass ein "Frexit" sehr bald zur Diskussion steht. Wetten wir, dass...?

Wenn die Regierung taub ist auf beiden Ohren, verschafft sich die Bevoelkerung Gehoer mit unzimperlichen Massnahmen. Allerdings ist das Wegwerfen von vollwertigen Nahringsmitteln, wie dies die franzoesischen Bauern getan haben, schaendlich.

75 Prozent der Parlamentssitze bei einem Stimmenanteil von unter 30 Prozent sind das Problem.

Zum Ausgleich seines Images kümmert sich Hr. Hollande wenigstens darum, dass sich die EU in die richtige Richtung bewege: Rascher ran zum Abgrund!

Frankreich hat sich den "Widerwärtigkeiten" im europäischen Binnenmarkt schon immer mit nationaler Eigenständigkeit entgegen gestellt. Dass sich Ereignisse an den Grenzen Frankreichs häufen, liegt vielleicht weniger an den ineffizienten Regierungen Frankreichs, als an den immer deutlicher werdenden Unzulänglichkeiten im hochgelobten Binnenmarkt der EU und seiner Gemeinschaftswährung in der Eurozone, welche die Unterschiede in den Konkurrenzfähigkeiten der Eurozonenländer schonungslos aufzeigen. Die Proteste der französischen Bauern seien nicht gegen ihre Kollegen in Deutschland gerichtet, sondern gegen die Ineffizienz und Untätigkeit des Verwaltungsmolochs in Brüssel. Von der eigenen Regierung, welche sich vornehm zurückhält, wird offensichtlich schon gar nichts mehr erwartet. Die so hochgehängte Bedeutung der Personenfreizügigkeit in der EU, hat eben auch zur Folge, dass polnische Erntehelfer in Deutschland, Druck auf die Preisstrukturen in der französischen Landwirtschaft erzeugen. Statt die Konkurrenzfähigkeiten in Frankreich auf Vordermann zu bringen, werden in der EU erfahrungsgemäss lieber planwirtschaftliche Massnahmen ins Auge gefasst.

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