Eine präkolumbische Ruinenstadt
Der erste Chimú-König, so die Überlieferung, erreichte um das Jahr 1200 auf einem Floss die nordperuanische Küste. Zweihundert Jahre später herrschten seine Nachfolger über tausend Kilometer Küstenland, von der heutigen Grenze Perus mit Ecuador bis fast nach Lima. Ihre Residenz Chan Chan wuchs zu einer der grössten präkolumbischen Städte Lateinamerikas heran. Als ausschliesslich mit ungebrannten Lehmziegeln gebaute Stadt übertraf sie mit einem Stadtgebiet von 20 Quadratkilometern alle andern vergleichbaren Siedlungen, nach damaligem Verständnis eine Megalopole, auch wenn sie nur aus einstöckigen Lehmbauten bestand. Sie lag inmitten einer Oase, die ausgeklügelte Bewässerungstechnik der Küstenwüste abgeluchst hatte. Der Gewerbefleiss von bis zu 100 000 Einwohnern und der Reichtum ihrer Könige waren sprichwörtlich, an Neidern mangelte es nicht. Die Inkas, aus ihrem Andenreduit hervorbrechend, rollten das Reich Chimor nach 1470 von Süden her auf. Chan Chan wurde leichte Beute: die Invasoren durchtrennten einfach seine Lebensadern, die Kanäle der Wasserversorgung. Sie plünderten die Stadt und verschleppten den König nach Cuzco, zusammen mit Hundertschaften von Handwerkern. Ein halbes Jahrhundert später fanden die Spanier nur noch eine Geisterstadt vor; allerdings duftete sie für Pizarros goldlüsterne Soldaten immer noch so unwiderstehlich nach vergrabenen Schätzen, dass sie sich wie in einem Bergwerk aufführten und ganze Trupps das Stadtgebiet umwühlten. Pizarro gründete 1536 gleich neben Chan Chan eine neue Stadt, die er nach seinem Geburtsort in der spanischen Extremadura Trujillo nannte.
Aus dem Ruinenfeld von Chan Chan ragen neun umwallte Gevierte heraus – jedes ein Labyrinth von Gängen, Höfen, Zisternen, Kammern sowie Rampen mit Plattformen. Die Umwallungen bestehen aus hohen, zum Teil mit Reliefs dekorierten Mauern aus ungebrannten Lehmzigeln. Auf diese “ciudadelas“, Zitadellen, können sich die Archäologen noch keinen endgültigen Reim machen. Die Paläste und Residenzen auch namentlich bekannter Könige? Grabanlgen? Heiligtümer? Arsenale und Schatzhäuser? Kasernen? Vermutlich von allem etwas. Immerhin fanden sich unter einer Plattform Skelettreste von dreihundert jungen Frauen; sie hatten offenbar einen König ins Jenseits begleiten müssen. Zwei Wallanlagen tragen übrigens die Namen von Schweizer Forschern, die sich im 19. Jahrhundert um Chan Chan bemühten. Die „Ciudadela Tschudi“, die grösste und am besten erhaltene, freilich auch stark restaurierte, ja verrestaurierte (auf dem Bild im oberen linken Viertel) erinnert an den Glarner Johann Jakob von Tschudi, eine andere an den Berner Adolph Francis Alphonse Bandelier. 32 kleinere Gebäudekomplexe und vier Handwerkszentren, für Weberei, Holz- und Metallverarbeitung, ergänzen das Inventar der monumentalen Wallanlagen
Die Unesco würdigte 1986 Chan Chan als Welterbe. Den Ausschlag gab das urbanistische Argument, die meisterhafte Stadtplanung der Riesenstadt; gewürdigt wurden auch die noch erkennbaren gewerblichen, agrarischen und wasserbaulichen Systeme, die eine Grosstadt überhaupt erst ermöglichten. Gleichzeitig setzte die Unesco Chan Chan auf die rote Liste akut gefährdeter Welterbestätten. Und auf dieser Liste wird Chan Chan voraussichtlich für immer bleiben.
Die „huaqueros“, die Schatzsucher, gehören seit Pizarro zu den chronischen Plagen Chan Chans. Ihr Tun ist ungesetzlich, aber das Ruinengelände ist weitläufig und die Überwachung lückenhaft. Freilich gingen die Behörden selber mit dem schlechten Beispiel voran: ohne Rücksicht auf archäologische Verluste bauten sie die Strasse, die Trujillo mit dem Flugplatz verbindet und durch das Ruinenfeld führt, auf die dreifache Breite aus – wider nationales Recht und internationales Welterbe-Abkommen.
Die Hauptgefahr droht Chan Chan heute jedoch von den Stürmen und Sturzregen, die El Niño bringt. Die Chimú waren Dachmuffel; sie hielten es nicht einmal für nötig, alle Räume der „ciudadelas“ zu decken. Warum auch? Es regnete ja praktisch nie. Archäologen, die l972 in Chan Chan von Schauern durchnässt wurden, verbuchten das als Privileg; in dem halben Jahrhundert vorher hatte es nachweisbar höchstens ab und zu genieselt. Seither ist aber der Klimawandel auch in der vormals knochentrockenen Küstenwüste Perus angekommen. Trommelregen verdeutlichten erstmals 1983 drastisch die neue Gefahr: viele der luftgetrockneten Lehmziegel Chan Chans zerliefen wie Schokolade an der Sonne. Immer wieder wird in Erwartung eines bösen El Niño ein umfassendes Schutzprogramm mit Notüberdachungen, Schutzbewurf für Wanddekor und Vorkehrungen zur Entwässerung aktiviert. Und immer wieder erweist es sich als unzureichend. Nach besonders schlimmen Regenstürmen mussten 2008 ein halbes tausend Arbeiter 2,5 Kilometer Mauer um drei „Zitadellen“ herum in der urspünglichen Höhe von 12 Meter neu bauen. Die aussergewöhnliche Höhe der Umwallungen war vermutlich als Schutz vor Sand- und Staubstürmn gedacht. Jahr des Flugbilds: 1995 (Copyright Georg Gerster/Keystone)
Obwohl ich mich nun schon seit meiner Kindheit für präkolumbianische Kulturen interessiere und z.B. darauf warte, dass Charles Manns Buch "1491" von 2003 endlich einmal auf Deutsch erscheint, denn es gibt eine recht gute Übersicht zum Forschungsstand, der sich in den letzten 2-3 Jahrzehnten massiv erweitert hat, war mir diese Stadt tatsächlich noch unbekannt. Und wieder frage ich mich, was wir allein an Kulturschätzen retten, an Geschichte entdecken und an zivilisiertem Fortschritt erreichen könnten, wenn nicht die Hauptanstrengung der Menschheit darin bestünde, sich gegenseitig zu vernichten, wenn nicht die Klügsten und fähigsten daran arbeiten würden, solche Tötungsmaschinen zu ersinnen oder "finanzielle Massenvernichtungswaffen" zu erfinden und auch einzusetzen – und wenn wir allen Menschen weltweit eine Ausbildung geben würden, die es ihnen erlaubte, das Beste aus sich zu machen statt z.B. zu verhungern oder kriminell zu werden: Wir könnten in einem Paradies leben, müssten kaum mehr als 25-30h / Woche arbeiten, könnten interessanten Hobbies nachgehen, mehr über die Kulturen der Welt wissen (und sie dann auch höher achten) … und die superreichen 1% müssten dafür vermutlich nicht einmal soviel von ihrem ergaunerten Reichtum abgeben, dass sie dies wirklich bemerken würden.