Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland - und zurück
Als ich zum ersten Mal nach Griechenland kam, beschäftigte ich mich sofort mit den Sozialversicherungssystemen. Gezwungenermassen. Denn in Griechenland kommt die Sprache immer sehr schnell auf die Frage, wann man in Rente gehen kann. Mir wurde vor etwa 25 Jahren deshalb klar, dass das griechische System ausserordentlich grosszügig ist. Zusätzlich handelt es sich alles um staatliche Rentenkassen, die umlagefinanziert sind, das heisst: Die arbeitende Bevölkerung zahlt die Rente; nichts wird zur Seite gelegt; zahlt niemand Beiträge, dann Rente ade. Es gibt über 100 dieser Rentenkassen. Gleichzeitig sind diese Kassen für die Alters- und für die Gesundheitsvorsorge zuständig – was zu einer grossen Intransparenz führt.
Die Albaner retten das Rentensystem
In den Fünfziger- bis Siebzigerjahren verliessen hunderttausende von Griechinnen und Griechen ihre Heimat: Nach Australien, USA, Deutschland, oft nur mit einem Bild der oder des Verlobten in der Hand. In den achtziger Jahren konnte diese Entwicklung gestoppt werden. Und als ich das erste Mal nach Griechenland kam, rollte gerade die erste Einwanderungswelle an. Aus Albanien. Zuerst gab es Kriminalität, illegale Beschäftigung und andere Begleiterscheinungen. Im Jahre 1996 gingen wir das erste Mal in die Pindosberge: Nach Papingo. Auf einer Wanderung sahen wir verschupfte und verlumpt angezogene Gestalten, die angstvoll grüssten – Albaner, die gerade die seit einigen Jahren grüne Grenze überschritten hatten. Es war ein kalter April. Der Regen war nie weit und Schnee war liegengeblieben.
Im Jahre 2001 waren wir wieder dort. Ein goldener Herbst. Wir konnten uns an den farbigen Bäumen nicht satt sehen. Jeden Abend sassen wir noch im Oktober lange draussen. In einer Taverne in Papingo lernten wir die Wirtin etwas näher kennen – sie kam aus Albanien und hatte den Wirt geheiratet – ausserordentlich tüchtig, nett und nie um ein gutes Wort verlegen. Wir hörten auch, dass in diesen Wochen die Primarschule in Papingo wieder eröffnet wurde. Der Grund? Die vielen Albanerkinder im Dorf hatten dazu geführt, dass die Mindestzahl zur Führung einer Dorfschule nun wieder erreicht wurde.
Die Albaner sorgen in Griechenland also in den Neunzigerjahren für den dringend nötigen Arbeitskräftenachschub, denn die Geburtenrate ist eine der niedrigsten in Europa, obwohl der gesellschaftliche Druck auf junge Paare, für Nachwuchs zu sorgen, riesig ist. Und mit der Zeit begannen diese Albaner, auch in die Rentenkassen einzuzahlen – aber pensioniert sind sie noch nicht. Das führte dazu, dass ein Rentensystem, das eigentlich schon vor 20 Jahren hätten Bankrott gehen sollen, immer weiterlief. Ich wartete darauf, dass es nicht mehr finanzierbar war, aber der Moment kam nicht. Bis zur Schuldenkrise. Griechenland wurde also in den neunziger Jahren ein Einwandererland. Das führte einerseits dazu, dass die Renten vorerst gesichert waren. Es hatte aber auch sehr negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Das reichliche Vorhandensein von günstigen Arbeitskräften verscheuchte jeden Gedanken nach Investitionen und Produktivitätssteigerungen. Die Wirtschaft wurde nicht modernisiert. Noch konnte man abwerten, noch konnte man die Leistungsbilanz so ausgleichen. In der Landwirtschaft wurde nichts mechanisiert. Man verliess sich auf die Albaner, die die Oliven ernteten und überhaupt für jede schwere Arbeit zu haben waren. Auf dem Bau ebenso. Und natürlich hatte jede griechische Familie eine albanische Putzfrau – auch wir.
Die Krise: Das System bricht zusammen
Nun ist die Krise da und damit das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit. Oft bleibt den jungen Griechinnen und Griechen nur, ihr Glück in der Fremde zu suchen. So wie ihre Grossväter und Grossmütter. So weit haben ihre Eltern das Land gebracht.
Der Wachstumseinbruch und die starke Depression ab Sommer 2008 führte dazu, dass die Renten bereits im März 2010 nicht mehr finanzierbar waren. Als das erste Memorandum zur Lösung der Krise verkündet wurde, beschrieb der damalige Arbeitsminister Andreas Loverdos – Mitglied der damals regierenden Panhellenischen Sozialistischen Bewegung PASOK – am Fernsehen eine radikale Reform des Rentensystems. Bisher war es so, dass wer vierzig Jahre Beiträge bezahlt hatte, in Rente gehen konnte. Der Sinn dieser Bestimmung lag darin, dass noch bis weit in die Siebzigerjahre die Griechinnen und Griechen praktisch immer als Fünfzehnjährige bereits voll arbeiten mussten. Für diese Leute war eine Rente mit 55 kein Luxus. Allerdings hatte sich die Bestimmung überlebt. Aber in der griechischen Öffentlichkeit hatte es nie eine Diskussion gegeben über die Finanzierbarkeit von Renten und der Zusammenhang zwischen Beschäftigung, Produktivität und Renten. Auch der Zusammenhang zwischen der tiefen Geburtenrate und dem umlagefinanzierten Rentensystem wurde nie thematisiert. Politiker schauen in Griechenland den Leute aufs Maul und versprechen, was gefragt ist: Staatliche Stellen und Frühpensionierungen, Subventionen für die Bauern. Und nun war das vorbei. Das Weihnachtsgeld und die Ferienzulage – beides heilige Kühe – wurden im ganzen Rentensystem praktisch komplett geschlachtet. Auch sonst wurde praktisch überall gekürzt.
Zu meiner grossen Überraschung wurden diese Rentenkürzungen durchgezogen. Diese sind im Ergebnis für die Betroffenen brutal und ungerecht. Brutal, weil damit viele Griechinnen und Griechen am Existenzminimum dahinvegetieren und ungerecht, weil die ganze reiche und korrupte Oberschicht einmal mehr ungeschoren davonkam. Das Resultat war niederschmetternd: Die lineare Kürzung von Renten und Löhnen entzog Griechenland Kaufkraft, was zu einem Einbruch der Binnennachfrage führte. So wurde das Land immer stärker in die Rezession getrieben, in der es sich schon seit Sommer 2008 befand; damit verblieb auch das Defizit hartnäckig hoch und die Geldgeber verlangten zusätzliche Massnahmen. Griechenland war in der Schuldenfalle etwa wie Deutschland unter Brüning 1930-1932.
In den Folgejahren passierte im Grunde genommen immer das Gleiche: Griechenland setzte das Massnahmenpaket unvollständig um und realisierte vor allem diejenigen Massnahmen, die zu horizontalen Lohn- und Rentenkürzungen führten. Die Steuerhinterziehung bekämpfte man nie ernsthaft, Privatisierungen wurden mit der fadenscheinigen Begründung aufgeschoben, der Markt sei nicht günstig und die geschlossenen Berufe wurden auch nicht liberalisiert. Das führte dazu, dass das Land immer stärker in die Rezession rutschte, das Loch in der Kasse und im Rentensystem immer grösser wurde und die Troika immer stärkere Massnahmen anmahnte.
Das griechische System versus die Schweizer AHV
2014 verbrachte ich wie immer die Sommerferien in Oxylithos auf der Insel Euböa. Die Arbeitslosigkeit schlug alle Rekorde. In der Eurozone betrug sie gesamthaft 12 %. Das ist an sich schon viel, aber in Griechenland erreichte sie damals 27% – eine astronomische Zahl die kaputte Schicksale und Lebensträume verbirgt. Vor allem die Jungen bezahlen bis heute die Sünden ihrer Eltern – etwa 2/3 betrug damals die Jugendarbeitslosigkeit. Unerhört! Von einer Entbürokratisierung und Korruptionsbekämpfung ist kaum die Rede. Meine Frau rief mich aus Athen an und teilte mir mit, wir hätten eine hohe Steuerrechnung gekriegt. Ihr war in diesem Winter an einer Schule in Athen wieder ein Pensum als Gymnasiallehrerin angeboten. Die zuständige Stelle bestand darauf, dass sie sich bei der Sozialversicherungsanstalt für Freiberufler TEBE versichern liesse, während der TEBE darauf bestand, dass das ein Fall für die IKA sei – die Kasse für die Angestellten. Meine Frau versuchte, dann, sich beim TEBE zu registrieren, was ihr nicht gelang. Sie konnte deshalb die Stelle nicht antreten. Die Begründung für die hohe Steuerrechnung war, sie habe sich beim TEBE registriert. Da wundert man sich, dass in diesem Land niemand investieren will!
Von den ungefähr hundert Sozialversicherungsanstalten, die wie gesagt alle staatlich und mehr oder weniger Pleite sind und alle nach dem Umlageverfahren arbeiten, sind die Wichtigsten IKA (Unselbständigerwerbende), TEBE (Selbständigerwerbende) und NAT (Seeleute). Natürlich wäre es nötig, diese Kassen alle zu fusionieren. Aber das ist nicht so einfach, weil die Leistungen und Beiträge sehr unterschiedlich sind. Niemand hat es bisher geschafft, diesen Augiasstall auszumisten. Beim TEBE ist es zum Beispiel so, dass man einen hohen monatlichen Sockelbeitrag zahlen muss (zwischen 200 und 500 Euro). Das soll die Hinterziehung verhindern. Allerdings wird gerade das Gegenteil erreicht, denn in der Krise haben viele Selbständigerwerbende ihren Laden offiziell geschlossen, weil sie die Beiträge an den TEBE nicht mehr zahlen können und arbeiten schwarz weiter. NAT ist finanziell einigermassen gesund und die Mitglieder haben auch deshalb wenig Lust auf eine Fusion. Bei IKA sind die Beiträge vom Einkommen abhängig, aber grotesk hoch, so dass auch hier Anreiz zum Schummeln besteht. Gleichzeitig gibt es, ungleich der Schweizer AHV, oben einen Deckel. Das heisst, dass die ganz hohen Einkommen fast beitragsfrei sind. Das heisst: Die Beiträge an die griechischen Sozialversicherungen sind für Arme und Mittelständler prohibitiv hoch, für gut Verdienende aber gering. Deshalb ist auch die Umverteilungswirkung gering. Das wurde auch von den sozialistischen Regierungen nie geändert. Warum wohl?
Das Geniale an der Schweizer AHV, das hat die Ökonomin Monika Bütler auf ihrem Blog www.batz.ch kürzlich sehr verständlich analysiert, ist die hohe Umverteilungswirkung. Die AHV hat relativ geringe Beiträge und diese sind gegen oben unbegrenzt. Bei den Renten ist aber sehr schnell das Maximum erreicht. So gelang es der AHV trotz relativ geringen Beiträgen, die Altersarmut praktisch vollständig auszumerzen. Das System ist also äusserst effizient. Der Unterschied zu Griechenland sticht ins Auge.
Gleichzeitig ist die Sozialversicherungskasse eine Krankenkasse – ebenfalls mit sehr unterschiedlichen Leistungen. Und wer arbeitslos ist verliert nach einem Jahr alle Unterstützung und die Leistung der Krankenkasse. Da kommt ein riesiges soziales Problem auf Griechenland zu. Noch leben die meisten Griechen von den Reserven. Aber nicht ewig. Natürlich müsste die Krankenkasse und der Altersrente entflochten werden, aber auch das wird auf die lange Bank geschoben. Trotz der Rentenkürzungen der vergangenen Jahre ist das Sozialversicherungssystem eine offene Baustelle und verhindert Wirtschaftswachstum.
Der Reformvorschlag der Regierung Tsipras
Nun kann man in den Zeitungen lesen, dass Griechenland eine weitere Rentenreform vorbereitet. Die Notwendigkeit dazu kann aus dem oben Gesagten kaum bestritten werden. Dass sie unpopulär ist, liegt ebenfalls auf der Hand. Griechenland hat sich aber im letzten Sommer im dritten Memorandum zu einer solchen Reform verpflichtet. Liest man diese Vereinbarung, so fällt zunächst auf, dass horizontale Rentenkürzungen im Memorandum 3. fehlen.
Die Reform, die aktuell diskutiert wird, ist zwiespältig. Einerseits ist eine wirkliche Reform vorgesehen. Krankenkassen und Altersvorsorge sollen entflochten werden und es soll für die Altersvorsorge nur noch eine Kasse übrigbleiben. Das ist definitiv richtig und es lässt tief blicken, dass es die Linksregierung Tsipras brauchte, um dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Das Problem bei der Analyse sind einmal mehr die völlig fehlenden Details. Es wird viel über die Rentenreform geredet, aber man hört nur Meinungen und empörte Stellungnahmen.
Man hört, dass die Beiträge stark heraufgesetzt werden sollen. Und das ist die Achillesverse der ganzen Reform. Die Wirtschaft verträgt eigentlich keine Beitragserhöhung. Die Beiträge sind im Segment der Armen und der Mittelklasse bereits prohibitiv hoch. Im Bereich der hohen Einkommen ist die Steuerprogression extrem steil. Trotz des Plafonds bei den Rentenbeiträgen bezahlt man schnell einmal 2/3 des Einkommens für Steuern und Abgaben. Entscheidend ist auch die Frage, ob die Bemessungsgrundlage vereinheitlicht wird, oder ob es nach wie vor verschiedene Tarife für verschiedene Berufe gibt, ob die konkurrierende Bürokratie verschwindet oder ob einfach alle Rentenkassen unter einem Dach zusammengefasst weiter funktionieren. Der erste Fall wäre eine riesige Verbesserung, weil man nicht von Kasse zu Kasse geschickt werden könnte, sondern neu für alle die gleichen Bedingungen gelten würden. Handwerker sind ja eigentlich selbständig Erwerbende. Aber viele sind trotzdem bei IKA versichert, nicht beim TEBE. Das führt dann dazu, dass der Bauherr wie ein Arbeitgeber wirkt und für die Handwerker Sozialversicherungsbeiträge abführen muss – ein Albtraum für jeden Häuslebauer. Aber solche Fragen, die für das Gelingen der Reform entscheidend sind, kann der geneigte Bürger nicht beurteilen, weil die Informationen dazu gar nicht in die Medien sickern oder von diesen nicht aufgenommen werden. Rapportiert wird nur, dass die Bauern wieder einmal die Strassen blockieren. Die Bauern, die bisher auch im Rentensystem privilegiert waren, weil sie praktisch nichts bezahlten, aber voll bezugsberechtigt waren. Unklar ist auch, ob der für viele Selbständige prohibitiv hohe Sockelbetrag bleiben wird, den diese unabhängig davon bezahlen müssen, ob sie etwas verdienen oder nicht. Diese Bestimmung führt dazu, dass die Eintrittshürden in den Arbeitsmarkt hoch sind und sie kostet Jobs – jeden Tag! Und Rentner dürfen in Griechenland nicht arbeiten. Das ist verboten. Sie können also nicht versuchen, die Last der Renten etwas gerechter zu verteilen. Sie tun das natürlich trotzdem – aber schwarz. Gleichzeitig dürfen auch Ärzte, die im nationalen Gesundheitssystem für einen Hungerlohn arbeiten, nicht Privatpatienten behandeln. Auch sie tun es trotzdem – aber schwarz. Ob mit solchem Unsinn endlich aufgeräumt wird, ist entscheidend. Aber wir wissen es nicht.
Das Beste, was dem griechischen Rentensystem passieren könnte, ist Wachstum. Dann würde es von selber wieder tragbarer. Aber danach sieht es nicht aus.