Reise der falschen Hoffnung

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Reise der falschen Hoffnung

Von Heiner Hug, Neapel - 16.07.2017

In Genua bewarben sich 12‘000 junge Menschen für 200 Stellen.

Eva Maria ist 26 Jahre alt. Sie wohnt mit ihrem Freund in einem Vorort von Neapel. Beide verfügen über ein abgeschlossenes Universitätsstudium. Beide sind arbeitslos.

Um zu überleben, arbeiten sie schwarz. Er als Pfleger in einem Altersheim, sie als Hilfskrankenschwester in einem Privatspital, manchmal als Serviererin. Mal bringen sie pro Tag zusammen 100 Euro nach Hause, mal 120, oft aber gar nichts. „Wir möchten eine Familie gründen“, sagen sie, „doch ohne eine gewisse Sicherheit können wir das nicht wagen.“

Beide wissen, dass in Italien Universitätsabschlüsse bei der Arbeitssuche wenig helfen. Deshalb haben sie Krankenpflege-Kurse besucht. Dazu mussten sie einen Kredit aufnehmen, den sie inzwischen abgestottert haben.

Massenexamen

Jetzt haben sie mit vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen einen Bus gemietet. Der soll sie nach Genua bringen. Dort findet in der Messehalle eine Aufnahmeprüfung statt. 200 Krankenschwestern und Pfleger werden gesucht, die Hälfte für Spitäler in Genua, die andere Hälfte für Krankenhäuser in anderen Regionen Liguriens.

Das Massenexamen beginnt um 08.00 Uhr morgens. Ein Hotel können sich die wenigsten leisten, das Flugzeug schon gar nicht. Viele sind mit dem Auto ihrer Eltern gekommen – die meistern aber mit Bussen und Zügen. Einige sind schon am Vorabend angereist und haben irgendwo in der Stadt im Freien geschlafen.

Einige weinen

So fahren denn Eva Maria, ihr Freund und ihre Freunde um Mitternacht in Neapel los: 700 Kilometer sind es. Als sie am frühen Morgen in Genua eintreffen, erschrecken sie.

12‘000 junge Menschen hatten sich für das Examen angemeldet. Etwa 7‘000 von ihnen stehen nun an diesem frühen Morgen vor der Messehalle. Einige weinen, sie wissen, dass sie wieder einmal keine Chance haben.

Über 40 Prozent der italienischen Jungen sind arbeitslos. Viele verfügen über eine gute Ausbildung. „Ich habe mich für über 50 Stellen beworben“, sagt ein 23-Jähriger. Nichts. „Wie will der Staat einmal die Sozialleistungen für diese verlorene Generation bezahlen?“ Und er fügt bei: „Wie will der Staat aus der Krise herauskommen, wenn eine halbe Generation kein Geld hat, um zu investieren und Güter zu kaufen?“

Die Zukunft entscheidet sich in 45 Minuten

Die Prüfung besteht aus 45 Fragen. Diese müssen die Kandidatinnen und Kandidaten in 45 Minuten beantworten. Bestehen sie dieses theoretische Examen, folgt eine praktische Prüfung. Und zum Schluss werden einige zu persönlichen Gesprächen vorgeladen.

Um zur Prüfung zugelassen zu werden, müssen sich die 7‘000 in der Messehalle zuerst registrieren lassen. Das dauert. Um 11.00 Uhr warten noch immer Tausende draussen. Sie beginnen, laut zu protestieren. Und sie erzählen sich Geschichten. Auch im süditalienischen Bari sei vor kurzem eine Prüfung ausgeschrieben worden. Dort suchte man 150 Krankenschwestern und Pfleger. 16‘000 junge Menschen hätten sich gemeldet.

Ausgesperrt

Auch um 14.00 Uhr warten in Genua noch immer Hunderte. Schliesslich werden die Türen geschlossen. Viele, die aus allen Teilen Italiens gekommen waren und hunderte Kilometer gefahren sind, werden jetzt ausgesperrt.

Eva Maria und ihr Freund haben zwar den Prüfungsbogen ausgefüllt, doch sie haben keinerlei Illusionen. 700 Kilometer hin, 700 Kilometer zurück – wahrscheinlich vergebens. „So werden wir eben weitersuchen“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Sie rechnet nicht einmal damit, dass man ihre Antworten auf die gestellten Fragen überhaupt liest.

Vetternwirtschaft?

Zwei Tage später findet eine ähnliche Prüfung in Rom statt. Dort werden 40 Krankenschwestern und Pfleger für die Poliklinik „Umberto I“ gesucht. 1‘750 Kandidatinnen und Kandidaten hatten sich angemeldet. Als sie vor das Hotel kommen, wo das Examen stattfinden sollte, sehen sie ein Aushängeschild. „La prova è sospesa. – Die Prüfung ist annulliert“. Aus Wut blockieren viele der Jungen die Strassen. Die Polizei greift ein.

Grund für das Abblasen der Prüfung seien administrative Probleme, heisst es. Doch auch andere Erklärungen werden herumgereicht: Die Stellen würden von einflussreichen Leuten unter der Hand vergeben: an nahe Verwandte und Bekannte, an Brüder, Cousins und Schwiegersöhne.

Kaum zu fassen, wie junge, oder nicht junge, Italiener verheizt werden! Ob der Nationalstaat wohl bessere politische und wirtschaftliche Infrastrukturen für die Italiener und Italienerinnen schaffen kōnnte als die Europāische Union? Es wāre so sehr zu hoffen!
Āltere sind in der Regel, wenigstens hierzulande, zum 'Schneider raus'; aber wir hātten gehofft, dass es auch für die Nachkommen in Italien, in Frankreich, Spanien, Griechenland, wo auch immer, ein lebenswertes Leben gibt, das es erlaubt, eine Familie zu gründen, eine Arbeit zu haben. Urmenschliche Bedūrfnisse.

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