Das Beamten-Parlament

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Das Beamten-Parlament

Von Gisbert Kuhn, 20.09.2017

Ist der Deutsche Bundestag wirklich noch eine Volksvertretung im Sinne des Wortes? Oder bestimmen nicht schon längst öffentlich Bedienstete den politischen Kurs?

Prof. Dr. Eugen Gerstenmaier konnte mitunter ganz schön boshaft sein. Der Deutsche Bundestag, befand er einmal despektierlich, sei „keineswegs der Querschnitt des deutschen Volkes, sondern allenfalls dessen Durchschnitt“. Der CDU-Politiker und Theologie-Professor wusste, wovon er sprach. Schliesslich sass er von 1954 bis 1969 ganze 14 Jahre, zwei Monate und 15 Tage dem Bonner Parlament als Präsident vor – eine bis heute noch von niemand anderem mehr erreichte Rekordzeit. Der sarkastische Schwabe kannte also seine Pappenheimer.

Spiegelbild der Gesellschaft?

Wie würde Gerstenmeier wohl über die aktuelle Volksvertretung und deren Vorgängerinnen in den – sagen wir – vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten befinden? Nähme er diesen Begriff überhaupt noch in den  Mund? Vertretung des Volkes – das bedeutet, im Wortsinne, doch ein wenigstens einigermassen realistisches Spiegelbild der Gesellschaft mit deren vielfältigen Facetten und Berufskategorien. Davon kann freilich längst keine Rede mehr sein. Natürlich gab es auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik schon Lobbyarbeit, also in die Politik entsandte Repräsentanten grosser Interessengruppen. Etwa die aus der Wirtschaft, aus den Gewerkschaften, den Kirchen, dem Handwerk oder der Landwirtschaft. Und nicht zu vergessen – dem öffentlichen Dienst.

Inzwischen haben sich, indessen, die Gewichte deutlich verschoben. Nämlich zu einem unübersehbaren – relativen – Übergewicht des öffentlichen Dienstes. Von den 630 Abgeordneten des in wenigen Tagen abtretenden 18. Bundestags kommen 149 aus dem Bereich Beamte und öffentliche Angestellte, sind also Lehrer, Polizisten, Verwaltungsleute usw. Damit stellen sie rund ein Viertel der Parlaments-Mitglieder. Anders ausgedrückt: Gemessen an den insgesamt rund 41 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland, von denen sie etwa elf Prozent ausmachen, sind die öffentlich Bediensteten politisch also überdurchschnittlich stark vertreten.

Die Düsseldorfer „Wirtschaftswoche“ zitiert in einem weiteren Zusammenhang mit dieser Entwicklung den Berliner Soziologen Oskar Niedermayer, der in einer Studie feststellte, dass in den Parteien der prozentuale Anteil von Beamten und öffentlich-rechtlichen Angestellten sogar noch grösser ist als im Bundestag. Vor allem bei den Grünen: 45 Prozent. Aber auch in der SPD bringt es diese Gruppe in der jetzt auslaufenden Wahlperiode auf 42 und in der CDU immerhin ebenfalls noch auf 31 Prozent.

Unschlagbarer Vorteil

An dieser (übrigens auch in den Landesparlamenten vorherrschenden) Schieflage wird sich auch im nächsten Bundestag nichts ändern. Denn über alle Parteigrenzen hinaus ist unter den angetretenen Kandidaten der öffentliche Dienst erneut vergleichsweise stark überrepräsentiert. Der Grund? Dieser Beschäftigtenkreis hat gegenüber praktisch allen anderen Berufsgruppen einen enormen Wettbewerbsvorteil, den auch der Pressesprecher des Deutschen Beamtenbunds (dbb), Frank Zitka, gar nicht leugnet: „Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben das Privileg, dass sich eine Beurlaubung leichter organisieren lässt.“ Für Selbständige, etwa kleinere Firmen wie Autowerkstätten mit ein paar Mechanikern, „ist das schlicht nicht praktikabel“ (Zitka).

Das ist noch ziemlich zurückhaltend formuliert. Wer als Beamter für ein Parlament kandidiert, hat grundsätzlich Anspruch auf Beurlaubung für die Zeit des Wahlkampfs als auch (falls gewählt) für die gesamte Legislaturperiode. Und – fast wichtiger noch – er besitzt ein Rückkehrrecht. Die früher sogar noch bestehende automatische Regel-Beförderung am Ende einer Wahlperiode wurde mittlerweile zwar um einiges enger gefasst. Aber die Privilegierung gegenüber anderen Berufsständen war damit keineswegs vorbei. Beispiel: Wenn sich ein Beamter nach vier Jahren Bundestagszeit bei seinem „alten“ Arbeitgeber zurückmeldet, zugleich jedoch seine erneute Kandidatur anmeldet, wird er sofort wieder dafür beurlaubt. Damit geniesst er also praktisch ein Rundum-sorglos-Paket. Da müssten jedem Freiberufler eigentlich die Tränen kommen.

Interessant für Anwälte

Immerhin, es gibt eine Berufsgruppe, für deren Angehörige ein Parlamentsmandat ganz offensichtlich ebenfalls durchaus reizvoll erscheint – das sind die Rechtsanwälte und Notare. Nach Aussage der Anwaltskammer praktizieren in Deutschland gegenwärtig rund 160’000 Anwälte. 80 davon drücken gegenwärtig die Sessel des Berliner Reichstagsgebäudes. Das heisst, nahezu jeder achte Abgeordnete kommt aus diesem Bereich. Gesunken ist  dagegen ständig der Anteil von Unternehmern. Im allerersten Bundesparlament – es umfasste damals noch lediglich 499 Mitglieder – sassen noch 71 Unternehmer. Heute (620 MdBs) sind es bloss noch 35. Einer davon ist der Koblenzer CDU-Mann Michael Fuchs, der in wenigen Tagen allerdings ebenfalls ausscheidet. Er beklagt vehement die zu geringe Repräsentanz von unternehmerischem Sachverstand angesichts der „Wirtschaftsfremdheit in den Parteien“, die er in Sonderheit bei den Grünen ausgemacht hat. Mitunter müsse man es schon als Erfolg werten, „Schlimmeres verhindert zu haben“. Das sei, befindet darum auch der zuständige Berufsverband, „keine gute Entwicklung. Die politische Führung einer Industrienation wie Deutschland braucht dringend die Erfahrung und das Wissen der Unternehmer“.

Was wäre eine Erinnerung an das eingangs erwähnte Gerstenmaier-Zitat vom Querschnitt oder Durchschnitt des deutschen Volkes, ohne jene nicht unerhebliche Schar von Politikern wenigstens kurz zu streifen, die weder eine irgendwie geartete Berufsausbildung absolviert, noch ein ursprünglich begonnenes Studium beendet haben. Volksvertreter also, die gewissermassen ohne jede Kenntnis vom wirklichen Leben trotzdem Gesetze für rund 80 Millionen Bürger mit entscheiden. Mitunter ist diese „offen“ gebliebene Lernzeit geradezu kunstvoll im Bundestags-Handbuch kaschiert, versteckt oder verniedlicht? Einfach ist das Entschlüsseln noch, wenn unter „Beruf“ zum Beispiel die Angaben „Geschäftsführer“ oder „Dreher“ stehen. Dann bedeutet die Übersetzung im ersten Fall: Ist über die Arbeitgeberschiene im Parlament eingerückt. Und beim zweiten Beispiel kann man sicher sein, dass der Erwähnte im Verlauf seines Lebens möglicherweise zwar eine Reihe von Dingern gedreht hat, aber ganz gewiss schon lange kein Eisen mehr. Im Klartext: Hier ist einer von der Gewerkschaft aktiv. Kundige Zeitgenossen beziffern den Anteil der Ausbildungs-Abbrecher im Berliner Parlament sogar mit bis zu 30 Prozent.

Wer sich die Zeit nimmt und der Mühe unterzieht, im Handbuch des Deutschen Bundestages zu blättern (was natürlich längst auch digital möglich ist), wird sich relativ schnell zu einem Dechiffrier-Experten mausern. Beispielsweise wenn er über Formulierungen stolpert wie diese: „Studium der Volkswirtschaftslehre in …“ oder „Studium der Biologie und der Sozialwissenschaften in …“, dann sollte er schon genauer hinschauen. Findet sich dann nämlich kein Hinweis auf ein Staatsexamen, ein Diplom oder eine Magisterarbeit, darf getrost darauf gewettet werden, dass dieses Studium irgendwann geschmissen wurde. Dieser Formulierungstrick ist zwar keine direkte Lüge, aber die ganze Wahrheit über den fraglichen Volksvertreter steckt halt auch nicht drin. Im Übrigen würde sich der eifrige Spurensucher wundern. Da sind auch einige Promis drunter. Daraus könnte man für sich durchaus ein Gesellschaftsspiel entwickeln: Ein paar Klicks im Internet, und schon hätte man sie entdeckt …

Möchte noch nachschieben: Eine Hauptaufgabe von Parlamenten ist es, das Zusammenleben über Gesetze regeln zu helfen, und Regierungen (Beamte) tragen mit zig Verordnungen dazu bei. Repräsentative Demokratie (Wahlen) impliziert offensichtlich Systemanreize für Berufsgattungen, die sich auch beruflich mit Regeln beschäftigen (Rechtsanwälte, Lehrer (Erziehungsregeln), Verbandsvertreter, etc.), sich für diese Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Verständlich, dass man feststellt, die Parlamentszusammensetzung entspreche nicht dem Berufsprofil der Bevölkerung. Ich teile die Auffassung, dass das problematisch werden kann (Mangel an Realismus in Parlamentsentscheiden). Andrerseits: die Bevölkerung besteht aus ungefähr zur Hälfte aus Männern und Frauen. Heisst das nun, dass beide zu 50% im Parlament vertreten sein müssen...? (Das kann der Fall sein, es können auch mehr Frauen als Männer im Parlament sitzen, das ist nicht der Punkt). Der Punkt ist: Mit rigiden Vorstellungen führt man das Argument ad absurdum.
Ein Hauptproblem unserer Demokratie ist doch, dass man meint, man könne mit Gesetzen das Leben regeln. Je mehr man das macht, desto weniger ist es der Fall (man kennt die Regeln schon gar nicht mehr oder beachtet sie immer weniger). Schaut die Gerichte an, welche den Gesetzen Nachachtung verschaffen sollen: in diversen Bereichen - z.B. Familiengesetzgebung - verheddern sie sich prozesstechnisch immer mehr, ihre Einschaltung wird zu teuer, es kommen keine vernünftigen Lösungen mehr zustande. Dann hilft man sich als Bürger (m+w) halt selbst. Etwas Ähnliches passiert doch in der Politik, aber das gehört nun nicht zu diesem Artikel.

Ja, die schwache Vertretung erfahrener Praktiker im Parlament find ich auch besorgniserregend, wurde aber offenbar vom Theologieprofessor schon vor 50 Jahren beklagt. Man kann sich nun fragen, wie gut/schlecht das Bundesparlament in diesen 50 Jahren gearbeitet (legiferiert, überwacht, etc.) hat; daran liesse sich die Qualität messen. Tatsache ist, diese Parlamentarier sind gewählt. Womit sich die Frage stellt: wer stellt sich dafür überhaupt zur Verfügung und wer nicht (und wieso)? (Siehe Diskussion über Berufsparlament). Sind bei Wahlen Qualitätskriterien einzuführen? Usw. Alles legitime Fragen über die Qualität der demokratischen Regierungsform.

Richtig, im Vergleich zu Zeiten vor 1939 waren in Frankreich und der Schweiz die Beamten noch nicht so zahlreich Volksvertreter. Allein, das Bruttoinlandprodukt wird nicht von öffentlich Besoldeten hergestellt. Atypisch ist Frau Martullo. Warum tut sie sich das an? Erinnert an die Herrschaft der Apparatschiks. Lasst uns einen Cincinnatus finden und wirken lassen!

So sieht also heute die viel gepriesene, sogenannte 'repräsentative Demokratie' aus. Kein Wunder, geht die liberale Ordnungspolitik vor die Hunde. Uebrigens nicht 'nur' in Deutschland. Zur verringerten Zahl der Unternehmer im Bundestag: Es waren diese und die meisten ihrer Spitzenverbände, die Ludwig Erhard bei der Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft am meisten Knüppel zwischen die Beine warfen. Was fehlt, sind nicht 'einfach' Unternehmer, sondern Unternehmer und weitere, die über ihren eigenen Gartenzaun hinausblicken wollen und dazu in der Lage sind. Die für Ordnungen eintreten, die Unternehmen und Unternehmern erfolgreiches Wirken ermöglichen. Zum Wohle der Gesamtwirtschaft. Die für Wettbewerb eintreten, nicht für kartellistische Absprachen und auch nicht für den Kuschelkurs mit Machbarkeitsgläubigen. Von denen die meisten Beamte, Gewerkschafter, Juristen, Philologen und Soziologen sind. Wobei wir wieder beim Schluss des vorliegenden, wertvollen Beitrags angelangt wären.

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