Fatale Tabuisierung

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Fatale Tabuisierung

Von Stephan Wehowsky, 19.10.2017

Wer Migranten und Randgruppen wirklich helfen will, darf über ihre Schattenseiten nicht schweigen.

Im Berliner Tiergarten kampieren immer mehr Obdachlose. Sie rekrutieren sich nicht nur aus Migranten afrikanischer Herkunft. Vielmehr handelt es sich bei ihnen auch um Polen, die dort stranden. Die Kriminalität ist deutlich angestiegen. Die Polizei hat in diesem Jahr bis jetzt 61 Fälle von Körperverletzung registriert. Am 5. September wurde eine Kunststudentin auf ihrem Heimweg überfallen und ermordet. Der mutmassliche Täter, ein junger Russe, wurde in Polen gefasst. 

Der Bezirksbügermeister von Berlin Mitte, Stephan von Dassel, der den Grünen angehört, hat sich jetzt an die Medien gewandt und auf die Missstände hingewiesen. Prompt erntete er bei seinen Parteifreunden und Mitgliedern der SPD heftige Kritik. So sagte Julian Zado von der SPD: „Das sind populistische Töne, die eher rassistische Ressentiments am rechten Rand schüren.“ Dabei hatte Dassel lediglich ein Problem benannt und sich damit auch schützend vor seine Mitarbeiter gestellt, denen im Tiergarten zum Teil auch schon Gewalt angetan wurde.

Wer Missstände und Probleme benennt, die mit Migration und Obdachlosigkeit zusammenhängen, ist deswegen noch kein rechter Populist. Stephan von Dassel markiert diese Probleme, um politische Lösungen zu ermöglichen. Dazu gehört zum Beispiel die Bewilligung von mehr Personal zur Betreuung und die Bereitstellung von Räumen als Notschlafstellen. Rechte Populisten zielen auf das genaue Gegenteil.

Wer aus vermeintlicher allgemeiner Menschenliebe heraus die Benennung von Problemen und Missständen unterbinden möchte, spielt denen in die Hände, die er eigentlich klein halten will. Denn dann können die rechten Populisten für sich in Anspruch nehmen, auf Sachverhalte aufmerksam zu machen, die die anderen „totschweigen“. Wer wirklich etwas für Migranten und soziale Radgruppen erreichen will, darf die Probleme nicht unter den Teppich kehren. Sie müssen benannt und diskutiert werden. Das ist die Bedingung für eine freie, soziale und gerechte Gesellschaft.

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Solange die SPD in solchen simplen Denkmustern verharrt, muss man sich nicht wundern, dass niemand sie noch ernst nimmt. Kriminelle Einzeltäter oder bandenmässig organisierte Gruppen, missbrauchen gezielt Migranten um unter ihnen unterzutauchen. Wer das nicht sieht oder sehen will, arbeitet direkt fremdenfeindlichen Parteien in die Hände.

"Der mutmassliche Täter, ein junger Russe, wurde in Polen gefasst." (J21)
"Der mutmassliche Täter, ein 18-jähriger Tschetschene, wurde in Polen verhaftet" (NZZ)
Tschetschenen sind nahezu 100% Moslems.
Wird hier etwa das islamische Gewaltpotential tabuisiert?

Der Autor hat vollkommen recht, wenn er schreibt, dass die sozialen Probleme nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfen. Wenn ein Politiker, wie Dassel, auf Missstände von Migranten oder anderen sozial schwachen Menschen hinweist, hat dass rein gar nichts mit Rassismus zu tun. Ein Teil des Erfolgs der AFD basiert auf dem Prinzip wegschauen, was die grosse Koalition mit Bravour geschafft hat. Im sozialen Bereich liegt in Deutschland vieles im Argen. Die Mindestlöhne sind eindeutig zu tief und dies trotz einer boomenden Exportwirtschaft. Die Renten reichen für viele nicht aus, um ein würdiges Leben im Alter führen zu können. Natürlich hat die AFD nicht im Ansatz Lösungen parat, um für ein sozial gerechteres Deutschland zu sorgen. Aber der Zulauf von Wählern zu der AFD (vor allem im Osten) ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass viele Menschen abgehängt worden sind und nicht daran glauben, dass die etablierten Parteien Lösungen anbieten können/wollen. Darum muss die Diskussion real- und gesellschaftspolitisch geführt werden, wie die mannigfaltigen sozialen Probleme angegangen werden sollen. Alles andere würde nur dazu führen, dass die AFD noch mehr Rückenwind bekäme. Und die SPD täte gut daran, nicht die Augen zu verschliessen und nicht dauernd davon zu schwafeln, dass man mit dem Benennen von Problemen der sozial Schwächsten, den Rechten in die Hände spiele. Das Gegenteil ist der Fall.

Erfreulich, dass in diesem Forum, Journal 21, nicht tabuisiert wird, weswegen es lesenswert ist.

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