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16. Februar 2021

Putin und das russische Chaos-Trauma

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Putin und das russische Chaos-Trauma

Von Reinhard Meier, 28.12.2017

Alexei Nawalny, Russlands bekanntester Oppositioneller, darf bei der Präsidentschaftswahl im März nicht kandidieren. Dabei muss Putin um seine Wiederwahl überhaupt nicht fürchten.

Jetzt ist es also offiziell: Die russische Wahlkommission hat entschieden, dass die Kandidatur von Alexei Nawalny bei der Präsidentschaftswahl vom 18. März nicht zugelassen wird. Begründet wird die Entscheidung des Gremiums mit bedingten Vorstrafen des 41-jährigen flamboyanten Kreml-Kritikers. Tatsächlich ist Nawalny in verschiedenen Verfahren wegen angeblichen Betrugs, die vom Europäischen Gerichtshof als unfair beurteilt worden sind, zu bedingten Haftstrafen verurteilt worden. Und es gibt ein von Putin durchgebrachtes Gesetz, wonach strafrechtlich verurteilte Bürger nicht in ein staatliches Amt gewählt werden können.

Kein Kenner der russischen Verhältnisse zweifelt aber daran, dass die Entscheidung der Wahlkommission auf einen entsprechenden Wink Putins zurückgeht. Hätte der Kremlchef ein anderes Ergebnis gewünscht, so hätte die Kommission selbstverständlich eine Begründung gefunden, um Nawalny zur Präsidentschaftswahl zuzulassen.

Nawalnys Ausschluss ist dennoch ein Zeichen der Schwäche seitens des Putin-Regimes. Es zeigt an, dass den Kreml die Mobilisierungsfähigkeit und das jugendlich-kämpferische Charisma des unerschrockenen Putin-Kritikers beunruhigt. Diese Fähigkeiten hat Nawalny in den letzten Jahren schon verschiedentlich demonstriert. Inzwischen ist er durch seine auf Youtube zu sehenden Filme, in denen er die luxuriösen Immobilien zeigt, über die etwa der russische Ministerpräsident Medwedew und andere Grössen aus Putins Machtzirkel verfügen sollen, einem Millionenpublikum im In- und Ausland zu einem Begriff für spektakuläre Korruptionsenthüllung geworden. (Link zum Film über Medwedews Villen.)

Nawalnys Aufstieg zum führenden Oppositionspolitiker in Russland bedeutet indessen keineswegs, dass er als Kandidat die Wiederwahl Putins ernsthaft gefährden könnte. Aber schon ein blosser Achtungserfolg mit einem Stimmenanteil von vielleicht 15 Prozent würde der seit 18 Jahren herrschende Machthaber offenbar als Beeinträchtigung seiner Autorität empfinden. 

Der wichtigste Grund für Putins Popularität, die ihm in Umfragen immer wieder bescheinigt wird, ist heute wohl darin zu suchen, dass er für einen Grossteil der Bevölkerung als Garant für Stabilität und damit als eine Art Schutzherr gegen Anarchie und Chaos gilt. Anarchie, Chaos und Gewalt zählen insbesondere seit den Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert zu den tief eingefleischten Traumata in der russischen Gesellschaft. Deshalb spricht viel für die These des Osteuropahistorikers Jörg Baberowski, der unlängst in einem NZZ-Gespräch meinte, Putin werde ja nicht eigentlich geliebt, aber er werde respektiert, weil er nach den tiefen Verunsicherungen des sowjetischen Zusammenbruchs „die Ordnungssicherheit wieder hergestellt“ habe. Dazu passt als Motiv auch die alte Weisheit, dass man lieber den Teufel wählt, den man schon kennt, als denjenigen, den man nicht kennt.

Umso bemerkenswerter ist es, dass Putin selbst diesen Pfeilern seines Herrschaftssystems offenbar nicht genügend vertraut, um die Präsidentschaftswahl im März ohne obrigkeitliche Manipulationen über die Bühne zu bringen. Wäre es anders, hätte er es nicht nötig, einem Aussenseiter wie Nawalny die Zulassung als Herausforderer zu verweigern.

Natürlich hätte Putin Nawalny an den Wahlen zulassen können. Die Begnadigung eines Verurteilten gehört in zahlreichen Ländern zu den Rechten eines Präsidenten. Z.B. hat ein US-Präsident den Einzigen für das Massaker in My Lai verurteilten Soldaten mit einer einfachen Unterschrift begnadigt. Bedeutet das nun umgekehrt, dass ein US-Präsident bei jedem Rechtsakt einen Wink gegeben haben muss?

Der Unterschied zwischen dem russischen Präsidenten und dem amerikanischen Präsidenten liegt wohl darin, dass sich Putin über die Oligarchen stellen konnte während Trump Obama usw. nur einen abwechselnden Teil der US-Oligarchie vertreten. Studien in den USA belegen bekanntlich sehr deutlich, dass die USA eher einer Oligarchie gleichen als einer Demokratie. Aber ich denke auch Putins Macht ist von einer von ihm hergestellten Gleichgewicht mit den Oligarchen abhängig. Und wenn man sich mit russischen Oligarchen beschäftigt sollte man sich bewusst machen woher die kamen und wie sie ihr vermögen machten. Ein nicht geringer Teil dieser "Aufsteiger" entstammte aus dem ehemaligen kommunistischen Establishment die durch ihre Vernetzung innerhalb der ehemaligen Sowjeteliten und durch Korruption während der Jelzin-Aera ihr Vermögen gründeten. Z.B. wie Chodorkowsky. Ein anderer nicht geringer Teil entstammte den "Dieben im Gesetz" oder anders ausgedrückt aus der Russenmafia.
Ein Nawalny der sich populistisch als Anti-Korrptionsaktivist ausgibt bedroht im Grunde damit fast jeden Oligarchen.

Sehr guter Kommentar! Und es ist eher noch übler: Die "Oligarchen" sind grösstenteils Privatisierungsplünderer, die sich nach der Wende grosse Teile der zuvor "volkseigenen" oder parteieigenen Güter und Betriebe für ein Trinkgeld unter den Nagel gerissen haben – wie ja auch bei der Übernahme (Abwicklung) der ehemaligen DDR in Ostdeutschland.
PS: Einen ähnlichen Oligarchen und weltweit aktiven Rohstoff-Plünderer namens Marc Rich, der wegen Steuerbetrug zur Fahndung ausgeschrieben war und sich in Zug (CH) versteckte, hat Präsident Clinton(!) an seinem letzten Tag im Weissen Haus begnadigt.
N. Ramseyer, BERN

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