Kein Platz für Chiesruedi
Alle im Ort nannten ihn den Chiesruedi. Der so hiess, war ein älterer Mann mit leichter geistiger Behinderung. Eine Baracke bei der nahen aufgelassenen Kiesgrube war sein Zuhause. Chiesruedi sammelte mit seinem Leiterwagen Altstoffe, erledigte hier und dort kleine Arbeiten. Dank seines heiteren Gemüts war er gern gesehen, und er konnte auf seine Fasson leben, weil er im Ort Unterstützerinnen und Betreuer hatte.
Der Chiesruedi war für alle, auch für behütete Kinder wie mich, der lebende Beweis, dass nicht alle Menschen ins gesellschaftliche Schema passen – und dass sie trotzdem dazugehören. Heutige Kinder (und Erwachsene) machen diese Erfahrung kaum mehr. Wer in unserer hochgetunten Leistungsgesellschaft nicht mithält, wird wegadministriert.
Früher war es nicht ungewöhnlich, dass Firmen einzelne weniger leistungsfähige Menschen beschäftigten. Sie waren Boten, Hilfsabwarte, Putzleute, Büro- oder Küchenhilfen. Diese Art Personal will man sich heute nicht mehr leisten. Um Kosten zu sparen, lagert man die Arbeiten aus oder steigert die Anforderungen. Da kann man angeblich nichts machen, wirtschaftliche Sachzwänge halt.
Unmenschlich behandelt werden die Ausgegrenzten nicht. Es sind Profis und Einrichtungen für sie da, der fürsorgliche Staat fängt sie auf. Den Preis zahlt die Gesellschaft zum einen mit wachsenden Sozialausgaben. Sie sind verkraftbar. Schwerer wiegt eine andere Folge: Die Chiesruedis sind aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschwunden. Volle Leistungsfähigkeit wird so erst recht zur unumstösslichen Norm. Und das ist für alle ungut, nicht nur für die Angeschlagenen.
Volldepp nannten sie ihn!
Ein hübscher 12 Jahre alter Junge aus dem Nachbarsdorf erkrankte plötzlich an einer Hirnhautentzündung. Meningitis durch Infektion mit Pneumokokken, woher er das hatte wusste niemand. Die Heilung dauerte eine Zeit lang, die Folgen unübersehbar. Nebel im Kopf und Sprechschwierigkeiten, er wurde sehr langsam. Alle rund herum Bemühten sich, alle wollten den alten Buben wieder haben, aber er war nicht mehr der Alte. Der vor Lebenslust sprudelnde in sich gekehrt, ein Schatten seiner selbst. Später verrichtete er monotone einfache Arbeiten. Als er älter und grösser wurde in jener Zeit, kam wieder einmal ein Frühling, und auch die Mädchen verspürten Begehrlichkeiten. Agathe, die Tochter des Bürgermeisters angezogen von seinem guten Aussehen verliebte sich. Kümmerte sich um ihn, brachte ihm Alltägliches bei und er blühte auf. Er lebte zwar ständig in Zeitlupe, man konnte ihn schlecht verstehen, aber er war die Liebe selbst. Inzwischen voll integriert und von allen angenommen. Wenn wir diese Art des Umgangs verlieren sind wir Jenseits von Eden, nähern uns den Androiden an, kalt erbarmungslos und nur noch auf Produktivität fixiert. Wir können uns vor intoleranten Menschen schützen, nicht aber vor Bakterien, es könnte jeden und jede treffen. Bleibt Mensch, gibt acht! … cathari
Volle Leistungsfähigkeit ja, aber folgt auch die volle Leistung?
Wenn man bedenkt, wie viele Frauen einen akademischen Titel oder eine Primarlehrerausbildung haben, aber dann nach wenigen Jahren nicht mehr voll leisten wollen, dann ist diese angebliche/erwünschte Norm arg angekratzt.Sie werden dann von anderen Vollleistern mitgetragen, wie der Chiesruedi.