Eine Erhellung Lateinamerikas
„Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren“ heisst das umfangreiche Werk, das die 74-jährige deutsche Lektorin, Herausgeberin, Vermittlerin Michi Strausfeld verfasst hat. Sie, die vier Jahrzehnte lang für Suhrkamp und anschliessend noch ein paar Jahre für den Fischer Verlag lateinamerikanische Autorinnen und Autoren in die Programme hievte, präsentiert so etwas wie die Summe all der Reisen, Begegnungen, Gespräche, Entdeckungen, Lektorate, die sie in den letzten 50 Jahren unternommen, erlebt und bewältigt hat. Nimmt man sich das Buch vor, bekommt man es mit einer ganzen Bibliothek zu tun – die man nur noch wirklich lesen müsste. Strausfeld versammelt und zitiert zahllose Stimmen lateinamerikanischer Literaten und lässt einen mit dem Wunsch zurück, nachzuholen, was bisher verpasst wurde, Bildungslücken zu schliessen, all die Texte zu lesen, die man bis heute nicht wahrgenommen hat.
Plausible These
Strausfeld ist keine Wissenschafterin. Sie verficht eine These und liefert uns Beispiele en masse, um diese These zu stützen. Methodik, akademische Forschungen und Untersuchungen sind nicht ihre Sache. Sie erzählt vom und über das Erzählen, nimmt uns auf ihre Reisen mit und stellt uns die literarischen Protagonisten vor. Die an sich einfache Behauptung, die zu beweisen der Autorin nicht schwer fällt, besagt, dass sich die Geschichte des Subkontinents nirgends schärfer abbilde als in den verschiedenen lateinamerikanischen Literaturen, ja, dass sie sich in Romanen, Erzählungen, Essays und sogar Gedichten besser und deutlicher erkennen lasse als in historischen Abhandlungen. In dieser Hinsicht ist die hispanisch-lateinamerikanische Literatur einzigartig. Enger Bezug zu Politik und Geschichte: das ist der gemeinsame Nenner, der die Literaturen der einzelnen Länder verbindet. Vielleicht kommt Brasilien mit seiner anderen Sprache und anderen Kolonisation dabei eine Sonderrolle zu.
Man kann irgendwo anfangen mit Lesen, in Argentinien oder Brasilien, in Chile oder Kolumbien, in Peru oder Mexiko, man wird feststellen, dass es so etwas wie ein länderverbindendes Bewusstsein gibt, das eben in diesem Interesse an der Geschichte des Subkontinents gründet Ein eigenes literarisches Genre wie der Diktatorenroman konnte nur in Lateinamerika entstehen; zur anderen populär gewordenen Genrebezeichnung, derjenigen des „magischen Realismus“, hat Gabriel García Márquez, dessen Romanen die europäischen Kritiker den Begriff angehängt haben, mehrmals verärgert geäussert, sein Realismus sei im Ganzen wie im Detail vor allem politisch.
Streifzüge
Strausfeld bearbeitet ihr riesiges Feld mit Hilfe von Streifzügen, die sie in verschiedene Zeiten und Regionen führen – ein sehr persönliches und eklektisches Verfahren, das spannende Resultate liefert. Freilich: es bleiben Tendenzen, es bleiben wichtige Autoren ausgespart bei diesem Verfahren, das ganz auf individuelle Vorlieben setzt. Strausfeld beschäftigt sich hauptsächlich mit den Autoren des sogenannten „Boom“, also mit Namen wie Juan Rulfo, Pablo Neruda, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Octavio Paz, Julio Cortázar, Isabel Allende, Alejo Carpentier, Juan Carlos Onetti und anderen mehr. Es sind die Autoren, die – häufig dank des Einsatzes von Michi Strausfeld – ab den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die deutschsprachige Leserschaft eroberten. Eine einmalige Erfolgsgeschichte, Vernachlässigt wird, zum Beispiel, die fantastische Literatur Lateinamerikas, eine Spezialität, die Jorge Louis Borges initiiert und die viele Nachfolger beschäftigt hat. Sie passt nicht in Strausfelds These, bleibt aber eine wichtige Tendenz innerhalb der lateinamerikanischen Literatur.
Strausfelds Streifzüge fangen bei Kolumbus an, beschreiben die mörderische Kolonisation mit Kreuz und Schwert, dem ein grosser Teil der indigenen Bevölkerung zum Opfer fällt, wechseln dann zu den Unabhängigkeitskriegen, führen durch die mexikanische, die kubanische Revolution und enden in der Neuzeit, die, was die zitierten Autoren angeht, etwas stiefmütterlich behandelt wird.
Die Schriftsteller als Chronisten, als Zeugen, gelegentlich auch als Mitwirkende, in diplomatischen Diensten Stehende, das ist es, was Michi Strausfeld am meisten interessiert. Am Ende der einzelnen Streifzüge richtet sie den Fokus jeweils auf eine einzelne literarische Koryphäe, mit der sie in Kontakt tritt.
Ein Buch, wie gesagt, um das nicht herumkommen wird, wer sich auf eine Reise durch die Literaturen Lateinamerikas begibt. Michi Strausfeld ist eine kenntnisreiche, eine inspirierte und enthusiastische Reiseleiterin. Eine grosse Stilistin ist sie nicht. Kritische Auseinandersetzungen mit den zahlreichen erwähnten Autoren und Texten vermeidet sie. Was besprochen wird, landet im Superlativbereich, ist entweder grandios oder grossartig oder wunderbar. Eine berufsbedingte Sichtweise. Sie ermüdet zuweilen, wird einem aber letztlich das Vergnügen an dem überreichen Buch nicht verderben.
Michi Strausfeld: Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren.
S. Fischer Verlag, 568 Seiten.