Der moderne Tod

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Der moderne Tod

Von Stephan Wehowsky, 02.03.2020

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat es in seinem neuesten Urteil jedem freigestellt zu sterben, wann er möchte, und sich dabei helfen zu lassen, von wem er es möchte.

Die Debatte über das selbstbestimmte Lebensende wird seit Jahrzehnten heftig geführt. Bislang gehörte Deutschland zu den Ländern, die vor dem selbstbestimmten Tod vergleichsweise hohe Hürden errichtet haben. Nur in hoffnungslosen Fällen sollte ein Patient sterben dürfen, indem zum Beispiel lebensverlängernde Massnahmen abgebrochen wurden. Aber auch das war noch heikel. Im Zweifelsfall konnten Ärzte oder medizinisches Personal wegen unterlassener Hilfeleistung juristisch belangt werden.

Der Wille des Einzelnen oder seiner Angehörigen brach sich bislang an dem Tabu, das den Tod umgab: Er durfte nicht mit Absicht herbeigeführt werden. Es waren nicht nur die Kirchen, die hinter diesem Tabu standen. Auch die deutsche Geschichte lehrte, dass allzu schnell Dämme brechen, wenn menschliches Leben bewertet und bei negativem Ergebnis schlicht und einfach beendet wird.

In den letzten Jahrzehnten hat sich aber ein anderes Prinzip mehr und mehr durchgesetzt: der Wille des Einzelnen. Die damit verbundene Selbstbestimmung hat Vorrang vor religiösen oder gesellschaftlichen Normen. Juristen sprechen diesbezüglich von „Mehrheitsmeinungen“. Dagegen steht das neue Prinzip, das der der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin in unüberbietbarer Klarheit formuliert hat: „Die Selbstbestimmung ist Trumpf“ – also gerade entgegen „Mehrheitsmeinungen“.

Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht jetzt im Sinne der Autonomie gegen Mehrheitsmeinungen festgelegt, dass der Wille zur Beendigung des eigenen Lebens an keine Bedingungen geknüpft wird. Es braucht keine Gutachter mehr, die den Wunsch vor dem Hintergrund des Todestabus beurteilen und eventuell abweisen.

Damit hat das Bundesverfassungsgericht einen Damm eingerissen, den Juristen und Ethiker über Jahrzehnte verteidigt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Tod zu einer blossen Option im Rahmen der Autonomie des Einzelnen gemacht.

Wenn aber die Optionen, zu leben oder in den Tod zu gehen, im Zeichen der Autonomie gleichwertig werden, kann die Verteidigung des eigenen Rechts auf das Leben einen bitteren Beigeschmack bekommen. Denn wenn jemand nur noch Ressourcen verbraucht, ohne erkennbaren Nutzen zu stiften, kann er seine Existenz vor den Zahlenden kaum rechtfertigen. Mindert er nicht die Lebensmöglichkeiten seiner Angehörigen, die für ihn aufkommen müssten? Und auch die Kassen werden die Frage zu stellen wissen, ob er nicht einen Beitrag zur Eindämmung der Kostenexplosion leisten könnte. Er steht vor einer Beweislastumkehr: Er muss den Nutzen seines Lebens gegen den Nutzen seines Todes rechtfertigen.

1998 wurde das „sozialverträgliche Frühableben“ zum Unwort des Jahres. Der Bremer Chirurg und Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar hat diesen Begriff in einem Radiointerview verwendet. Schon damals sah er in aller Klarheit, dass ohne übergreifendes Todestabu die Kosten-Nutzen-Abwägungen in den Vordergrund treten. Nicht, dass er es beklagt hätte.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht einen schwerwiegenden Fehler gemacht, indem es so tut, als bewege sich die „Selbstbestimmung“ ausserhalb dieser Kosten-Nutzen-Kalküle.

Die Selbstbestimmung ist ein Ideal, mehr nicht. Die Lebenserfahrung lehrt, dass Abhängigkeiten weitaus machtvoller sind als die beschworene Autonomie. Der Wunsch, noch einige Zeit zu leben, wird recht bald als Altersstarrsinn denunziert werden. Wer wird noch leben wollen, wenn ihm vorgerechnet wird, wie viel mehr junge Leute an seiner Stelle mit viel grösseren Erfolgsaussichten behandelt und betreut werden könnten?

Das sind schwierige Fragen, aber ganz sicher wird es bald Apps geben, die bei der Berechnung des Lebensrestwerts helfen.

Die Diskussion um den begleiteten Freitod war in Deutschland jahrelang durch das Trauma der Gräuel des dritten Reiches blockiert. Das Urteil zeigt, dass nun eine weniger belastete Generation von Richtern einen gesellschaftlichen Konsens umsetzen kann, der die Selbstbestimmung des Einzelnen als oberste Entscheidungsinstanz einsetzt. Der Wille des Einzelnen brach sich nicht am Tabu, das den Tod umgab, sondern am Willen der Kirche und der Gesetzgeber und ihren Ausführenden. Sie entschieden über Leben und Tod, und nicht die Betroffenen. Das wurde nun endlich geändert.

Dieses bahnbrechende Urteil befreit die Leidenden. Der Freitod als Fluchtweg aus schwierigen Situationen bietet sich immer an. Die Möglichkeit eines Freitodes macht das Unerträgliche erträglicher. Das Aushalten des Leidens wird zur Wahl und gibt damit dem Leidenden ein Stück Selbstwirksamkeit zurück. Eine Option ist noch keine Wahl. Alle hoffen auf einen guten und natürlichen Tod, aber es ist tröstlich zu denken, dass man soweit wie möglich selbst entscheiden kann. Die Möglichkeit eines begleiteten Freitodes mildert die Angst vor dem Tod und verbessert so die Lebensqualität, besonders auch im Alter.

Der Respekt vor dem Leben geht tiefer als Gesetze und tiefer als religiöse Überzeugungen. Die neue Entscheidungsfreiheit wird nicht plötzlich den Charakter des Menschen ändern und sie zu kaltschnäuzigen Materialisten machen, die den Gewinn über den Wert eines Menschenlebens stellen. Natürlich birgt das Urteil auch Gefahren und braucht flankierende Massnahmen, um ihnen zu begegnen. In der Schweiz schützt die KESB die Schwachen vor allfälligen Übergriffen. Jedes Recht birgt Pflichten in sich. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der neuen Wahlfreiheit muss erst eingeübt werden.

Das Urteil war kein Fehler, sondern eine mutige, längst fällige Tat fortschrittlicher Richter.

# Eine klitzekleine Provokation und wenigstens Sie, liebe Frau Wiederkehr haben reagiert. Dieses Thema müsste doch von Interesse sein. Heikel oder nicht? Irgendetwas macht Angst, verstehen Sie was ich meine, eventuell die freie Meinungsäusserung? Tant pis, sei es wie es wolle, Demokratie lebt, besteht durch Vielfalt von Meinungen. Man sollte die eigene Version, die eigenen begründeten Ansichten kundtun, so wie Sie und ich es gemacht habe.
Herzliche Grüsse …cathari

80 Milliarden Gesundheitswesen Schweiz, wohin gehst du?

Veränderungen kommen oft schleichend und an sensiblen Orten meist unbemerkt. Damals als die Sowjet-Union das „C“ raus bugsierte, die Kirchen in Lagerhäuser verwandelte, nannten sie es Umbruch. Die Russen, Präsident Putin hat zurückbuchstabiert, das C lebt wieder, man lebt es wieder. Die Philosophie des „C“ macht eben Sinn, es erinnert an die Fähigkeit des Menschen zum Unterschied des Tieres, das Recht des Stärkeren in ein wohlwollendes Miteinander zu verwandeln. Zur Erinnerung Jahrzehntelang, lange vor begleitendem Selbstmord (Mord) haben Ärzte auch geholfen durch Erhöhung betäubender Dosen von Irgendwas um das Ende zu lindern. Selbstbestimmung sollte da aufhören wo Gefahren für alle lauern. Die Gefahr lauert nach wie vor in einer Art suggerierter Selektion, indem man wertes und unwertes Leben versucht zu definieren. Im echtem gelebtem „C“ unhaltbar oder nicht?
Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, aber nicht unser manchmal hartes, manchmal sehr hartes Leben.
Eine Katholikin halt, das „C“ ist uns wichtig, so sind wir eben! …cathari

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