Rückeroberung der Freizeit

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Rückeroberung der Freizeit

Von Eduard Kaeser, 19.04.2020

Freizeit ist eine gefährliche Zeit. Nicht nur, weil sie uns in ein Paradox verstrickt: Was tun, wenn man nichts zu tun hat? Sondern auch, weil sie eine unangenehme Frage aufwirft: Aus welchen Gründen tue ich überhaupt etwas?

Die Frage hat die Tendenz, philosophisch, und damit meine ich: stachlig zu werden. Plötzlich zeigt die Existenz Risse, ja, vielleicht öffnen sich für den einen oder die andere Abgründe. Freizeit ist die Zeit, in der das eigene Leben ohne Netz der Gewohnheiten oder Vorschriften abläuft. Das verlangt nach innerer Balance, und genau sie ist gefährdet.

Freizeit wäre ja eigentlich die Zeit, über die man frei verfügt, sogenannt „verhaltensbeliebige“ Zeit. Aber so beliebig ist sie eben gar nicht. Mein Verhalten wird unterschwellig diktiert von den Normen der heutigen Arbeitswelt, ja, Freizeit ist oft Arbeit, stressige Arbeit. Freizeit ist eine Milliardenindustrie, die überhaupt erst die Bedürfnisse produziert, die sie befriedigt. Denn schon längst sind die Bedürfnisse zur Ware geworden. Früher suchte man zu einem Bedürfnis ein entsprechendes Produkt, um es zu befriedigen; heute schafft man zu einem Produkt ein entsprechendes Bedürfnis. Die meisten Gadgets, die den Markt überschwemmen, funktionieren nach diesem Prinzip.

Der technische Fortschritt

Betrand Russell hat einen kleinen Essay geschrieben: „Lob des Müssiggangs“. Darin unterscheidet er zwei Arten von Arbeit. Die erste besteht darin, ein Stück Materie von einem Ort zum andern zu verschieben; die zweite darin, andere das tun zu lassen. Diese Zweiteilung ist uralt. Sie bedeutet eine Klassengesellschaft. Wir kennen sie aus der Antike: Es gibt Bürger und Sklaven. Mühsame Arbeit wird delegiert. Der Sklave ist – so sagt Aristoteles – bloss ein Werkzeug.

Nun besteht der technische Fortschritt – zumindest nach einer gängigen Auffassung – darin, dass wir immer mehr Tätigkeiten – physische und intellektuelle – an Maschinen delegieren. Sie sind die eigentlichen „Sklaven“ von heute. Roboter – der Begriff wurde vom tschechischen Schriftsteller Karel Čapek 1921 in einem Theaterstück eingeführt – bedeutet künstlicher Arbeiter oder Sklave. Nebenbei bemerkt, endet das Stück nicht gut. Die Roboter übernehmen die Herrschaft und der Mensch stirbt aus.

So dramatisch muss man die Situation nicht sehen. Aber dieses Delegieren von Arbeit an andere Menschen oder an Maschinen kann uns vielleicht eine neue Perspektive auf die Freizeit eröffnen. Ich möchte hier kurz eine saisonal typische Freizeitbeschäftigung anleuchten: Gärtnern.

Gartenglück

Čapek schrieb nicht nur ein Stück über Roboter, sondern auch ein lesenswertes kleines Buch über Gartenarbeit: „Das Jahr des Gärtners“ (1929). In ihm begleitet er „den“ Gärtner ein Jahr lang bei seiner Arbeit. Und dabei wird ein Zusammenhang von Roboter und Gärtner offensichtlich, der als höchst aufschlussreich für ein typisch defizitäres Verhältnis zur heutigen Arbeit erscheint. Tatsächlich wird sie immer „roboterhafter“; verlangt bloss nach der Bedienung von Tastaturen und Interfaces. Und dadurch weckt sie – kompensatorisch – ein Bedürfnis nach pfleglichem Hand-Anlegen, das sich beispielhaft gerade im Garten-Anlegen ausdrückt. Es liesse sich sogar sagen, dass Gärtnern so etwas wie die Austreibung unseres „inneren Roboters“ bedeutet – oder anders gesagt: die Wiederbeseelung der Arbeit.

Ich sehe hier ein Paradox: Je mehr wir uns von physischer Arbeit entlasten, desto mehr regt sich das Bedürfnis nach physischer Arbeit.  Selbst die modernste Telekommunikation kann das Bedürfnis des Menschen nach physischer Nähe nicht ersetzen. Im Kontext der „smarten“ Technologien findet keineswegs nur der „Rückzug“ des Körpers aus der industriellen Arbeit statt, sondern auch ein gegenläufiger Prozess der Rückkehr. Wenn man zu Beginn des Industriezeitalters eine Abwertung der körperlichen Fertigkeiten des Arbeiters („de-skilling“) als Basis für die Mechanisierung der Fabriken forderte, werden im heutigen technischen Kontext sozusagen in ironischer Umkehr Postulate einer Wiederaufwertung ebendieser Fertigkeiten („re-skilling“) laut. Und so verhält es sich generell. Die neuen Kommunikations-, Produktions-, Verkehrsmittel liquidieren die alten nicht, sie verleihen ihnen vielmehr eine neue, ich möchte behaupten: potenziell emanzipatorische Bedeutung.

Die innere Bedrohung: Langeweile

Ich meine: Emanzipation von der Langeweile. Eine gewaltige Industrie drängt uns alles nur Erdenkliche auf, um unsere Freizeit möglichst von Langeweile zu säubern. Spass und Unterhaltung nennen wir das gewöhnlich. Im Grunde ist das nicht spassig. Denn die Maschinerie des Langeweilevertreibens kann ja nur in Gang gehalten werden, wenn Langeweile vorhanden ist. Sie muss also ständig erzeugt werden, und sie wird erzeugt durch ebenjene Medien, die sie vertreiben. Fernsehen exemplifiziert das Paradox musterartig: Es vertreibt und erzeugt Langeweile in immerwährenden Zyklen: Tretmühlen. Das liegt nicht am Inhalt der Sendungen. Es liegt daran, dass der durchschnittliche Konsument dieses Medium so benützt. In Umfragen fällt immer wieder die Ambivalenz der Antworten auf. Fernsehen macht müde, aber gerade wenn man müde ist, sieht man fern. Fernsehen macht so leer, dass man nur noch fernsehen kann.

Drückeberger und Müssiggänger

Was tun, um aus diesen Tretmühlen auszubrechen? Ich möchte mich hier an einer einfachen – wahrscheinlich zu simplifizierenden – Antwort versuchen: Müssiggang lernen. Das ist nicht leicht. Dazu müssen wir vorab zwischen Drückeberger/Faulenzer und Müssiggänger unterscheiden. Der Drückeberger verwendet Arbeitszeit zu eigenen Zwecken. Er erledigt etwa private Geschäfte über den Firmencomputer; er schaut sich heimlich YouTube-Videos an oder chattet mit der Freundin. Der französische Philosoph Michel de Certau hat dafür einen treffenden Ausdruck geprägt: „la perruque“ – man setzt sich eine arbeitsame Perücke auf. Man stiehlt Zeit. Man handelt also eigentlich innerhalb des Wertsystems der bestehenden Arbeitswelt, akzeptiert es stillschweigend; profitiert davon.

Der Müssiggänger dagegen weist dieses Wertesystem zurück. Er stiehlt nicht Zeit, er definiert sie für sich selber um. Er arbeitet unter Umständen durchaus hart, härter vielleicht als der normale Arbeitnehmer, aber er tut dies nicht, um dafür in irgendeiner Weise materiell entlohnt zu werden, sondern um zu demonstrieren, dass Arbeit sich auch anders auszahlt.

Freizeit ist eine eminent gestalterische Aufgabe

Was mich zur Schlussthese bringt: Wir haben ein unterentwickeltes Bewusstsein für die Freizeit. Und das heisst: ein unterentwickeltes Bewusstsein für die Langeweile. Hören wir kurz auf Friedrich Nietzsche (Fröhliche Wissenschaft): „Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ‚Windstille’ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist.“

Freizeit erobern wir nur zurück, wenn wir neben das Prinzip Arbeit ein Prinzip Musse stellen. Musse im Sinne von: Ich habe Zeit und Gelegenheit, also die Wahl, aber ich muss nicht. Genau das macht den Müssiggänger aus. Er weist nicht die Arbeit zurück, sondern die Normen der Arbeitswelt. Er definiert damit Freizeit grundlegend um. Nun nicht als Auszeit von der Arbeit, sondern im Sinn von freier Zeit zur Ausübung einer erfüllenden – meist einer kreativen und spielerischen – Beschäftigung. Das kann auch eine scheinbar sinnlose Aktivität sein. Zum Beispiel, indem man auf einer Brücke während eines halben Tages hin und her geht. Allez en avant et le sens vous viendra.

Freizeit, so verstanden, ist das gesellschaftliche Versuchsfeld, mussevolle Arbeitsformen zu entdecken, die sich durchaus als sinnvoll und nützlich erweisen können, ohne „laborisiert“, das heisst in die Arbeitswelt integriert zu werden. Musse sprengt das starre Gehäuse des Arbeitssystems. Wir brauchen heute Müssiggänger als Sprengmeister dieses Gehäuses, als waghalsige Exploratoren der Terra incognita Freizeit. Im Klartext: Sie sind ein Bildungsziel.

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Es lässt sich leicht über Tod und Freiheit räsonieren, solange man nicht selbst betroffen ist. Die meisten, die so lautstark ihre Freiheit über den "Corona-Tod" stellen, meinen ja nicht ihren eigenen Tod, sondern den anderer Menschen. Und so ist “für die Freiheit sterben” nicht gemeint. Es steht jedem frei, seiner eigenen Gesundheit zu schaden. Aber um der eigenen Freiheit willen andere zu infizieren und diesen den Tod zu bringen, das steht einem nicht frei. Und am Beatmungsgerät ist man nicht nur unfrei, sondern auch ohne Würde.

Lob der Freizeitgesellschaft!

„Unser Produktionssystem begründet eine anonyme Diktatur der Produktionszwecke; Leistungsforderung reduziert den Menschen zum homo faber, zum Arbeitswesen, das ganz nach aussen orientiert und nur für seine Funktion gedrillt und fit erhalten wird; die gesellschaftliche Kooperation verliert den menschlichen Gehalt und versachlicht sich; sie wird durch diese Objektivierung zwanghaft… Das Ergebnis lautet: es gibt in dieser Gesellschaft zu wenig Freiheit und zu wenig Glück…“ (Wort und Wahrheit, 1968/3, S. 195f., Autor unbekannt).

„Wenn diese Diagnose zutrifft, so ist die Freizeit jener Ort, in den der Mensch vor der Monotonie und vor allem dem Zwangscharakter der Arbeit flüchten kann; die Freizeit ist gerade wegen der inhumanen Produktionsbedingungen notwendig, um einen Ausgleich zu schaffen, einen Zeitraum, in dem – ähnlich wie in der Krankheit – niemand von ihm eine Leistung verlangen darf.

Es ist möglich, dass von dieser sozialpsychologischen Begründung her ein wesentlicher Anstoss zur Freizeitverlängerung ausgeht. Dieser Effekt könnte aber nur dann grösseres Ausmass annehmen und sich nicht auf marginale Kürzungen der Arbeitszeit beschränken, wenn die Ziele der Gesellschaft neu formuliert werden. Die Leistungsgesellschaft kann letztlich nur Erholungs- oder allenfalls Bildungsurlaube zugestehen, eine Freizeitgesellschaft hätte aber eine neue Wertordnung zur Voraussetzung: eine neue Wohlfahrtsfunktion müsste geschaffen werden, die die Rangordnung von Einkommen, Freizeit, Macht, Selbstbestimmung und anderen, möglicherweise erst zu erfindenden Kriterien festsetzt.“ (Clemens A. Andreae, Ökonomik der Freizeit, S. 221-222, 1970).

Coronavirus zeigt: Wahlbedarf ist riesig!

Die Mobilitäts-, Konsum- und Aktivitätseinschränkungen zeigen deutlich, welch grosser Anteil der Wahlbedarf in unserer westlichen Gesellschaft unterdessen eingenommen hat. Unsere Gesellschaft funktioniert grundsätzlich auch ohne grosse Wahlbedarfsdeckung weiter. Probleme gibt es natürlich hauptsächlich für jene, die in Wahlbedarfsbereichen tätig sind.

Setzt Euch doch einmal mit den Begriffen "Chronos" und "Kairos" auseinander! Darin liegt ein möglicher Lösungsansatz sowohl für
Arbeits- wie auch für Freizeit.

Was mich im Zusammenhang mit dem Müssiggang interessieren würde, wären die finanziellen Ressourcen und der soziale Status eines Menschen. Oder anders gefragt: Ist ein Mensch, der finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, eher in der Lage, sich dem Müssiggang hinzugeben, als jemand, dessen Leben sich nur am monetären Erfolg orientiert? Ein in der Geldmaschinerie Gefangener nimmt nicht selten für sich in Anspruch, einen Status erlangt zu haben, der ihn in der Arbeitswelt fast unersetzlich macht. Wer sich für unersetzlich hält, kann sich mit den gesellschaftlichen Normen der Arbeitswelt identifizieren; mehr noch: Er braucht eine genormte Arbeitswelt, damit er die Bestätigung erfährt, alles dafür getan zu haben, erfolgreich zu sein. Wer sich der Musse hingibt, kann sich auch im Nichtstun wiederfinden; wobei auch Denk- und Gefühlsverarbeitungen während eines Nichtstuns nicht einfach nichts sind. Folglich macht man immer etwas. Wie soll man zum Beispiel den Tod eines geliebten Menschen verarbeiten? Ich behaupte mal, dass ein bewusstes und nachhaltiges Abschied nehmen viel mit einer kompromisslosen Bereitschaft zu tun hat, sich auf eine Arbeit, oder gefühlsbetonter ausgedrückt: sich auf eine Musse einzulassen, die alles andere als von geringerer Natur sein muss. Wer sich der Musse verschreibt, ist in dem Sinne subversiv, als dass er sich von der Spass- und Freizeitindustrien nicht vereinnahmen lassen will. Er übt Verzicht, indem er sich der Konsummaschinerie widersetzt. Und dies ist für das System fast wie Krieg.

Man könnte auch analog Isahia Berlin's Unterscheidung zwischen negativer Freiheit (Zeit frei von äusseren und inneren Zwängen) und positiver Freiheit ("freie" Zeit haben zu..) argumentieren.
Wer eine selbstgewählte berufliche Tätigkeit mit Herz und Seele ausüben kann, für den ist Arbeits- grösstenteils Freizeit; da macht die Unterscheidung fast keinen Sinn.
Langeweile find ich existenziell einen interessanten Begriff, hat u.a. was mit "ausser sich sein" zu tun, denk ich.

Na ja, manchmal bin ich auch drückebergerischer Müssiggänger- danke für den inspirierenden Artikel.

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