«Das ist bei uns nicht möglich»
«Das sprengt einfach die Vorstellungskraft», sagt John Bolton, der frühere Sicherheitsberater Trumps im Interview mit der NZZ am Sonntag. Er meint natürlich den unglaublichen Überfall grölender Horden auf das Capitol in Washington, zu dem ausgerechnet der amtierende Präsident seine fanatischen Anhänger aufgepeitscht hatte.
Sinclair Lewis: «It can’t happen here»
Es mag sein, dass sich dieses spezifische Szenarium, das am 6. Januar via Fernsehen in alle Welt live ausgestrahlt worden ist, tatsächlich niemand hätte vorstellen können. Die stolze amerikanische Demokratie wird zwar gemäss dem nationalen Selbstverständnis weitherum als Vorbild und Modellfall einer modernen Volksherrschaft verstanden. Doch manche kritischen Geister im Land sind und waren von der Solidität und Wetterfestigkeit dieses demokratischen Staatsgebäudes keineswegs restlos überzeugt.
1935 hat Sinclair Lewis, der erste amerikanische Nobelpreisträger für Literatur, einen Roman mit dem Titel «It can’t happen here» (deutsch: «Das ist bei uns nicht möglich») veröffentlicht. Der Titel spielt auf die totalitäre Machtergreifung Mussolinis und Hitlers in Italien und Deutschland an und auf die Überzeugung vieler Amerikaner, dass ein derartiger Umsturz in der etablierten amerikanischen Demokratie nicht möglich wäre. (Siehe auch die Besprechung des Buches von Heiko Flottau Im Journal 21 vom 19.9.2020).
Sinclair Lewis erzählt in seinem Roman aber genau das Gegenteil. Der populistische Politiker Barzelius «Buzz» Windrip wird als Gegner von Franklin Roosevelt zum neuen amerikanischen Präsidenten gewählt – und zwar mit einem Programm, das drastische Wirtschafts- und Sozialreformen und eine Rückkehr zum angeblich vernachlässigten Patriotismus und den «traditionellen Werten» verspricht. Nach seiner Wahl schaltet er die Zuständigkeiten des Kongresses und die Kompetenzen der Einzelstaaten weitgehend aus. Seine zunehmend totalitäre Herrschaft baut er nicht zuletzt mit Hilfe einer rücksichtslosen paramilitärischen Truppe, den Minute Men, aus.
Windrip wird aber durch eigene Anhänger gestürzt und einer seiner selbsternannten Nachfolger versucht seine Macht zu festigen, indem er Mexiko den Krieg erklärt und eine militärische Massenmobilisierung organisiert. Der Roman endet mit der Beschreibung eines sich ausbreitenden Bürgerkrieges zwischen den Anhängern eines im Weissen Haus regierenden früheren Generals und einer sich im Mittleren Westen formierenden Widerstandsbewegung.
Sinclair Lewis hatte dieses Werk bewusst im Zusammenhang mit der bevorstehenden Präsidentschaftswahl von 1936 geschrieben. Huey Long, ein Senator und früherer Gouverneur von Louisiana, den seine Anhänger bewundernd als King Fish bezeichneten, galt im Vorfeld dieser Wahl als ein gefährlicher demokratischer Herausforderer des amtierenden Präsidenten Franklin Roosevelt. Long versuchte Roosevelt mit radikalen linkspopulistischen Schlagworten zu überholen. Er versprach eine einschneidende Umverteilung des Reichtums im Lande und jedem Bürger eine staatliche Zahlung von 5000 Dollar.
Der scharf polarisierende Herausforderer wurde 1935 im Parlamentsgebäude von Baton Rouge vom Verwandten eines politischen Gegners erschossen. Roosevelt gewann 1936 die Wiederwahl zum Präsidenten mit überwältigender Mehrheit von über 60 Prozent der Stimmen. Die Schreckensvision von Sinclair Lewis war von der Realität nicht eingeholt worden.
Philipp Roth: «The Plot against America»
Dennoch ist die Vorstellung einer populistisch-autoritären Machtübernahme in der amerikanischen Literatur weiterhin ein Thema geblieben. In seinem Roman von 2004 «The Plot against America» (Verschwörung gegen Amerika) macht Philipp Roth den Flugpionier und Volkshelden Charles Lindbergh zum Protagonisten eines mit dem Faschismus sympathisierenden Regimes. Lindbergh, der von Hitler und Göring persönlich hofiert worden war, gewinnt nach Roths Version die Präsidentenwahl 1940 gegen Roosevelt mit dem "America First"-Slogan (den einige Jahrzehnte später auch Trump adaptierte), antisemitischen Anspielungen und heftiger Agitation gegen einen möglichen Kriegseintritt der USA gegen Hitler-Deutschland.
Doch gegen die Präsidentschaft Lindberghs regt sich von verschiedener Seite wachsender Widerstand. Lindbergh verschwindet mit seinem Flugzeug auf mysteriöse Weise und sein Vize, der klar faschismusfreundliche Ziele vertritt, übernimmt das Weisse Haus. Die antidemokratische Verschwörung scheitert schliesslich und 1944 wird dann doch wieder Roosevelt zum Präsidenten gewählt.
«The Plot against America» ist nicht Philipp Roths bestes Buch. Aber der ebenso groteske wie noch vor wenigen Tagen unvorstellbare Sturm eines vom Hausherrn im Weissen Haus angefeuerten Pöbels machen immerhin bewusst, dass man scheinbar noch so weit hergeholte und exotisch anmutenden Umsturz-Konstruktionen auch in einer gefestigten Demokratie wie Amerika nicht kategorisch jeden Realitätsbezug absprechen sollte.
«Das ist bei uns nicht möglich» – auf solche selbstgewisse Weisheiten sollte man sich zumindest im Bereich des politischen Geschehens besser nicht verlassen. Das gilt nicht nur für Amerika. In der Politik sind im Hinblick auf die Zukunft immer alle Wendungen möglich – im Guten wie im Schlechten, wie man auch aus der Zeitgeschichte lernen kann.
Meine ständigen Aufrufe - auch im Sinne Jean Zieglers - dass wir diese kannibalische Weltordnung jetzt endlich stürzen müssen, zeigen langsam Wirkung, hehehehe :-)
Zu ergänzen ist, dass David Simon (u.a. The Wire) „The Plot Against America“ als Mini-Serie verfilmt hat. Empfehlenswert mit ausgezeichneten Schauspielern und tollen Sets.