Das doppelte Spiel - alle wussten, keiner hat denunziert (4)

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Das doppelte Spiel - alle wussten, keiner hat denunziert (4)

Von Hans Woller, Dieulefit - 25.08.2013

In einer vierteiligen Serie schildert Hans Woller, wie ein Städtchen im südostfranzösischen Departement Drôme zwischen 1940 und 1945 rund 1500 Juden und politisch Verfolgte, Franzosen wie Ausländer, aufgenommen und gerettet hat.

Teil 1: Dieulefit - die Kleinstadt, die Juden rettete

Teil 2: Fluchtpunkt Dieulefit, das Internat Beauvallon

Teil 3: Deutsche Kommunisten im französischen Widerstand

Das Rathaus von Dieulefit ist ein stolzer, dreistöckiger Bau aus  dem ausgehenden 19. Jahrhundert, dem man gerade ein modernes und architektonisch gewagtes Kulturzentrum an die Seite gestellt hat.  Hinter der hellen Natursteinfassade des Rathauses arbeitete während der Kriegsjahre eine junge Frau, die ganz entscheidend zum Erfolg  des zivilen Widerstands in Dieulefit  beigetragen hat: Jeanne Barnier. Sie war  die Sekretärin des damaligen Bürgermeisters,  Protestantin und Tochter der Leiterin des Kindergartens von Dieulefit.

Karte: stepmap.de/Journal21
Karte: stepmap.de/Journal21

Gefälschte Ausweise

Marguerite Soubeyran, die Direktorin des Internats von Beauvallon, die für ihre Schützlinge in der Schule und auch  für so manchen Gast in der Pension Beauvallon Ausweispapiere, vor allem aber auch Lebensmittelkarten brauchte, hatte sie überzeugt, diese zu fälschen. Und Jeanne Barnier sollte das ausgezeichnet machen. Pascaline Cahen, damals eine der Schülerinnen  im Internat von Beauvallon, erinnert sich noch sehr genau an eine Begegnung mit der jungen Sekretärin im Rathaus.

„Wir mussten damals  die Grundschulreife ablegen und dafür brauchte ich einen Personalausweis. Ich hieß damals Colomb.  Tante Marguerite hat zu meiner Mutter gesagt: ‚Versuchen Sie es im Rathaus, fragen sie dort nach der Sekretärin, vielleicht kann  die etwas für sie tun‘. Wir sind dann ins Rathaus gegangen. Jeanne Barnier war ganz jung, 22 oder 23. Sie sagte: ‚Welchen Namen soll ich eintragen?‘ Ich sagte: ‚Colomb‘. Vorname ?  ‚Pascaline‘ . Augenfarbe, Größe? Sie hat einen Stempel drauf gesetzt und mir meinen Personalausweis überreicht. So einfach ging das. Sie hat auf diese Art einen Haufen Menschen das Leben  gerettet. Sie hat mehr als tausend solcher Personalausweise gefälscht und sogar einen auf ihren eignen Namen ausgestellt.“

„Man wird dich hängen“

Dabei arbeitete die junge Sekretärin sogar unter einem Bürgermeister, der 1941 vom Vichy-Regime eingesetzt worden war, nachdem sein Vorgänger sich geweigert hatte, den Eid auf Marschall Petain zu schwören: Oberst Pierre Pizot.

Ein Teil der Bevölkerung von Dieulefit verhielt sich dementsprechend eher feindselig ihm gegenüber. Seine heute 93- jährige Tochter, Marine Jehanne- Pizot, erinnert sich:

„Viele  Leute in der Stadt haben ihn damals behandelt, als wäre er Petain selbst gewesen. Als ich eines Tages nach Hause kam - man musste da an einer Mauer entlang  gehen - hatte jemand  mit schwarzer Farbe an die Mauer geschrieben: Pizot du wirst gehenkt werden!  Er hat das Wort gehenkt auch noch falsch geschrieben. Da ist es uns schon kalt den Rücken runter gelaufen  -  Pizot, man wird dich hängen.“

„Jeannette, sie brauchen Urlaub“

 Inzwischen ist jedoch nicht nur die Tochter von Oberst Pizot davon überzeugt , dass das so genannte Wunder von Dieulefit, das Ausbleiben jeder Denunziation und jeder Verhaftung von Juden, politischen Flüchtlingen und Regimegegnern in der Gemeinde  zum Gutteil auch dem Verhalten dieses Bürgermeisters zu verdanken war .

„Er war damals schon 65 und er hat getan, was getan werden musste, damit die Deutschen nicht bis Dieulefit kamen. Er fuhr nach Valence, zur Präfektur,  kam wieder zurück und sagte der Bevölkerung: Verhaltet euch ruhig, seid vernünftig, macht keinen Lärm und keine Geschichten. So hat es 1942, 1943  keinerlei Vorfälle in Dieulefit gegeben. Eines Tages hat er dann auch seine Sekretärin zu sich gerufen und ihr gesagt: ‚Jeannette, sie brauchen jetzt Ferien‘. Die antwortete: ‚Mir geht es gut, warum?‘  - ‚Jeannette, sie brauchen Urlaub!  Sie nehmen jetzt ihr Gepäck und gehen zu ihren Leuten, sie haben doch im Nachbarort Freunde oder Familie, da gehen sie jetzt hin und ich melde mich wieder, wenn es so weit ist‘. Sie hat ihm dann  gehorcht und das Ganze hat acht oder zehn Tage gedauert. Mein Vater wusste eben, dass die Deutschen  eventuell kommen könnten und wollte nicht, dass sie geschnappt wird, da sie ja all diese falschen Papiere und Lebensmittelkarten ausgestellt hatte. Denn Papa war natürlich über alles auf dem Laufenden.“

„Ach, Gott!“ -  "Da hatten wir verstanden"

Und nicht nur über das, was unter seinen Augen im Rathaus passierte. Schließlich war seine eigene Frau Geschichtslehrerin am Gymnasium  “La Roseraie”, an der Dutzende jüdische Kinder von zahlreichen jüdischen Lehrern oder politisch Verfolgten unterrichtet wurden.  In den verschiedenen Häusern der weit verzweigten Familie seiner Frau hatten ebenfalls Hilfesuchende Unterkunft gefunden, ja selbst bei ihm Zuhause verkehrten Menschen, die der Vichy-Regierung und den deutschen Besatzern ein Dorn im Auge waren.

„Wir haben in dieser Zeit viele Leute zu Hause empfangen“, erinnert sich Marine Jehanne-Pizot. „Joseph Kosma, der Komponist, war zum Beispiel bei uns. Es waren, wie man so sagt, durchaus empfehlenswerte Leute. Auch ein anderer Komponist, Fred Barlow, war da. Kosma wohnte in Beauvallon und kam zu meinen Eltern, um zu musizieren. Er hatte eine nette, blonde Frau, angeblich eine Amerikanerin. Eines Tages sind wir  zusammen auf den Markt gegangen. Wir hatten Durst, und gingen einen trinken. Ich saß neben ihr und irgendwann ist ihr das Taschentuch runter gefallen. Als sie sich bückte, sagte sie  plötzlich auf  Deutsch : ‚Ach Gott!‘  Da hatten wir verstanden.“

Die jüdischen Familien gewarnt

Wie Bürgermeister Pizot haben in Dieulefit damals auch fast alle Gendarmen ein doppeltes Spiel gespielt und die jüdischen Familien häufig gewarnt, wenn sie wussten, dass die Vichy - Miliz in den Ort zu kommen drohte. Auch die Bauern in Dieulefit und Umgebung haben ihren Beitrag geleistet, nicht nur weil sie zahlreiche Menschen versteckten, sondern  auch indem sie die Lebensmittelkarten akzeptierten, von denen sie wussten, dass sie gefälscht waren.

Und schliesslich war  für den Erfolg des Rettungswiderstands an diesem Ort gewiss auch  die Tatsache mit entscheidend, dass viele Schlüsselstellen im gesellschaftlichen Leben von Dieulefit damals von Mitgliedern der protestantischen Gemeinde eingenommen wurden.

„Der Protestantismus hier im Dauphiné“, so der Historiker, Bernard Delpal,  „ist ein Protestantismus, der den Israeliten, wie man die Juden damals nannte, nahe stand. Diese Nähe beruhte unter anderem auf  ähnlichen historischen Erfahrungen. Schließlich handelt es sich um zwei verfolgte Minderheiten.

Protestantischer Widerstand

Die Protestanten waren ja während der  Religionskriege und unter Ludwig XIV. verfolgt worden. Man darf nicht vergessen, dass sie damals 10 % der Bevölkerung stellten. Das heißt, rund zwei Millionen Menschen hatten nach dem Widerruf des Edikts von Nantes 1685 keinerlei legalen Status mehr. Sie hatten  die Wahl zwischen drei Möglichkeiten. Sie konnten fliehen und viele haben das getan, gingen nach Preußen, nach Hessen und in die Schweiz. Von da her rühren bis heute die engen Beziehungen zwischen Dieulefit und der Schweiz. Die zweite Möglichkeit war, sich zu bekehren. Das taten sie aber nur nach außen hin, im Grunde blieben sie ihrem Glauben treu. Und die dritte Lösung war der bewaffnete Widerstand, vor allem in den Cevennen, wo die so genannten CAMISARD einen regelrechten Krieg gegen Ludwig XIV. geführt haben.

Diese Tradition des bewaffneten Widerstands lebte während des 2. Weltkriegs neu auf.  Es gab hier ein Netzwerk von Widerstandsgruppen mit sehr starken protestantischen Traditionen.  Und als einzelne  Pastoren Ende 1941, Anfang 1942 hier zum Widerstand aufriefen, da stiess das bei den  Protestanten auf offene Ohren.“Widerstand” war ein Wort, das in protestantischen Familien ein Echo fand.“

„Diese Frauen haben sich geliebt und beispielhaft  gehandelt“

Das Städtchen  Dieulefit ist vom gesellschaftlichen Leben her und politisch gesehen auch heute noch eine Besonderheit, ein Kleinod. In einer Region, in der das Wählerpotential der rechtsextremen Nationalen Front bei mindestens  30% liegt, ist der Abgeordnete von Dieulefit und Umgebung im Departementsrat ein Grüner und mit Christine Priotto hat der Ort  eine engagierte sozialistische  Bürgermeisterin, die sich jüngst zum Beispiel offensiv für die sehr umstrittene Homo-Ehe eingesetzt hat.

„Ich habe mich“, so die Bürgermeisterin , „auch  aus folgendem Grund stark in diese Debatte eingemischt: Man spricht hier immer mit Hochachtung von Catherine Kraft und Marguerite Soubeyran, den Direktorinnen der Schule von Beauvallon. Aber niemand sagt, dass die beiden als Paar zusammen gelebt und sich geliebt haben.  Homosexualität ist doch kein neues Phänomen. Diese Frauen haben sich geliebt, ein beispielhaftes Verhalten an den Tag gelegt und hunderte Kinder gerettet. Sie haben auch ihre eigenen Kinder erzogen und niemand würde es hier wagen,  in Fragen zu stellen, dass sie das gut gemacht haben. Als Bürgermeisterin von Dieulefit, einer Stadt mit dieser Geschichte,  musste ich da einfach klar Position beziehen.“

Freundschaftspakt mit Bissesao

In Dieulefit sind bis heute zahlreiche Spuren geblieben von der  Banalität des Guten, vom Geist der Solidarität, des Widerstandes und der Toleranz, die die Gemeinde  in den Jahren der nationalsozialistischen Besatzung ausgezeichnet haben.

Die kleine Stadt verfügt über eine außergewöhnliche Anzahl von sozial und politisch engagierten Vereinen. „Unterstützen und Teilen“ heißt zum Beispiel ein gut funktionierender Trödelmarkt. Ein sehr  aktiver Verein  beschäftigt sich mit dem  Völkermord in Ruanda und  hat die Stadt Dieulefit dazu gebracht, einen Freundschaftspakt ausgerechnet mit Bissesao zu unterzeichnen. Diese Stadt  war das Epizentrum des Völkermords, an dem sich die französische Armee 1994 wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat . Denn sie war präsent und hat zugelassen, dass der Völkermord  mit  all seinen Schrecken und fürchterlicher Gewalt weiterging.


Die Radiofassung dieser vierteiligen Serie „Dieulefit – Refugium in Zeiten der Barbarei“ läuft im DEUTSCHLANDFUNK am Dienstag 27. August 2013, „Das Feature“ - 19.15 – 20.00 Uhr

Erneut Ausländer verstecken

Ein so genanntes Bürgerkollektiv fördert in Dieulefit seit Jahren die Reflexion über ökologische und ökonomische Themen. Und ein Mal im Monat veranstaltet es eine Schweigerunde auf dem Hauptplatz  der Stadt  vor der evangelischen Kirche als Zeichen des Protestes gegen den Umgang mit Asylsuchenden im Land.

Es ist, als sei das heutige Engagement vieler Bürger von Dieulefit  durchaus eine Resonanz der besonderen Vergangenheit des Ortes. So gesehen dürfte es auch kein Zufall sein , dass es  in Dieulefit heute immer noch oder wieder Familien gibt, die durchaus bereit sind, illegale Ausländer ohne gültige Papiere zu beherbergen und , wenn nötig, zu verstecken.

 

 

 

 

Zeit für Helden ist immer und überall!

Ja, herzlichen Dank! Wohl der Zeit, die solche Helden hervorbringt - wehe der Zeit, die solche Helden nötig hat!

sehr interessante Serie, danke!

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