Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird. Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?
Notstand
Von Wilhelm Droste
Wie überall auf der Welt gibt es auch hier in Ungarn eine beindruckende Sehnsucht nach menschlichem Zusammenhalt und uneingeschränkter Solidarität im Kampf mit der tödlichen Bedrohung. Hier lag eine Chance zur Annäherung, zu mehr Friedensbereitschaft in der Luft, die jetzt durch die Aushebelung der Demokratie zunichte gemacht wurde. Die Spaltung der Gesellschaft hat sich vertieft, statt in der Not Gemeinsamkeit zu suchen, herrscht nun eine allgemeine Verängstigung in einer durch Misstrauen und Wut vergifteten Atmosphäre. So schwächt eine ganze Gesellschaft ihre Immunkräfte, das ist ein nationales Trauerspiel.
Dabei gab keinerlei sachlichen Grund für die noch totalere Machterweiterung. Das Parlament ist seit zehn Jahren schon ein gefügiges Spielzeug der Herrschaft, der Staatspräsident János Áder - im Geist der Verfassung eine Kontrollinstanz der Regierung - unterschreibt widerstandslos alles, das Notstandsgesetz jetzt postwendend.
Die Unordnung der Welt spielt hier eine wichtige Rolle. Das Virus hat nun auch Europa in vielerlei Hinsicht außer Kraft gesetzt. Überall wird aus Not radikal entschieden. Dieser internationale Ausnahmezustand ist ein idealer Moment, sich über alle Gesetze und Normen hinweg zu setzen. Instinktiv nutzt Orbán all diese Momente absolut schamlos und mit maximaler Ausbeute.
Verständlich die Stimmen, die Ungarn jetzt aus der Europäischen Union herauswerfen wollen. Europa wird von dem Antieuropäer Orbán an der Nase herumgeführt und korrupt ausgebeutet, aber es ist ein Schutzengel für alle Ungarn, die sich ein freies, demokratisches Heimatland wünschen. Ohne Europa wäre Ungarn der Willkür völlig ausgesetzt. Eine Gefahr für Mitteleuropa.
- Das metaphorische Sprechen vom Krieg gegen das Corona-Virus ist gerade mit Blick auf Ungarn gefährlich. 2020 jährt sich der Frieden von Trianon zum hundertsten Mal, als Ungarn zwei Drittel seines Landes verlor. Jetzt mobilisierte Orbán die Armee, um Schlüsselstellen des Landes symbolisch gefügig zu machen.
„Das Corona-Virus ist der erste Feind Orbáns, den er nicht selbst erfunden hat.“ Dieser Satz geistert hier durchs Internet und ist so witzig nicht, wie er spontan zu sein scheint. Bis jetzt kämpfte Orbán gegen Brüssel, gegen Soros, gegen die Migranten, die wurden dämonisiert und verächtlich gemacht. Corona ist eine überaus wirkliche Bedrohung, deren Eindämmung absolute Verantwortung verlangt. Gerade jetzt wäre ein absolutes Vertrauen in den Ministerpräsidenten von existentieller Notwendigkeit. Das halbe Land aber traut ihm nicht über den Weg. Selten wurde hier Deutschland um seine Angela Merkel derartig beneidet wie in diesen Tagen.
- Kultur: Die Krise treibt alle Kultur, besonders aber die „freischwebende“, in den Untergang. Gilt am Ende die Notstandsverfassung, dann kann Orbán allein entscheiden, wer eine Chance auf Neustart bekommt.
Die oppositionellen Bürgermeister der großen Städte sind nur ein schwaches Gegengewicht.
- Medien: kritische Berichterstattung wird noch weiter in die Enge getrieben, jetzt sogar mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bedroht, wer im Kampf gegen das Virus falsch berichtet. Was falsch und richtig ist, bestimmt natürlich die Regierung, die die „öffentlich rechtliche“ Berichterstattung auf ein erbärmliches Propagandaniveau herabgewirtschaftet hat.
- Heute vor vier Jahren starb Imre Kertész, in vierzehn Tagen würde Péter Esterházy 70 Jahre alt, die fehlen hier an jeder Ecke und Kante, ihr Blick auf die Wirrungen des Lebens, der Mut versprühte.