Ein Ausweg, den es nicht gibt

Die Prophezeiungen der politischen Apokalyptiker haben sich leider als treffend erwiesen. Die EU wurde vor ein paar Monaten abgeschaft.

Oder ist es länger her? Ich kann leider schlecht den genauer Tag und Uhrzeit nennen, das Sterben hat lange gedauert und das Ende verlief in einer fast mysteriösen Stille, so daß man nie genau wusste, wie, wann und vorallem – weshalb? Selbstverständlich war der reale Grund keiner, bzw. ein zu kleinlicher und banaler um als solcher in die Geschichtsbücher einzugehen. Es war weniger als ein Prozeduralfehler, weniger als eine beiläufige Kapritze irgendeines ungenannten EU-Beamten zweiten oder gar niedrigeren Ranges in einem der Kellerlabyrinte von identisch aseptischen Brüsseler Büros der EU Behörden (oder war es in Luxemburg? Oder Strassburg?), dem beim Verzehr eines Nachmittagsbrotes ein Stückchen Blutwurst im Hals steckengeblieben war, worauf ein im Würgekrampf falsch gesetztes Komma eine Kette von Missverständnissen, später dann misslungenen Vertuschungs- und Korrigierungsversuchen herbeigeführt hat, und damit in der intrigenreichen Welt der EU-Kommission und des EU-Parlamentes einen langen Sterbensprozess herbeieführt hat, so langwierig, schwerfällig und makaber, wie die Institutionen der EU selber, so dass man am Ende der EU, das keines war, den Tod der EU als kein richtiges Ereigniss, als kein transparentes Faktum, sondern als einen weiter andauernden Sterbe-und Verwesungsprozess wahrgenommen hat. Ich habe den politischen Apokalyptikern ihre richtigen Vorhersagen nicht vergönnt, habe ich mich ja von Anfang an auf die andere Seite gestellt, die Seite einer lebenden EU, die Seite des Lebens schlechthin. Jeweils habe ich es so empfunden. Entweder EU oder Tod. Und jetzt hatte ich keines von beiden und war verwirrt. Die meisten haben den unterschwelligen Tod der EU auch nicht bejubelt, mancheiner hat ihn gar nicht bemerkt. Man sah Bilder von eher kleinen und trüben Feiern in ein paar Dörfern in Südbayern, in ein paar Pubs an der südenglischen Küste um Dover, rund um Lille schwang man die Trikolore und in Vorstädten von Athens hechelte man in die Kamera und meinte, man hätte sich den Hingang der EU schon vor Jahren herbeigesehnt. Das war es auch schon. Nicht dass ich dem Ganzen groß nachgetrauert hätte. Meine Großeltern haben in 20. Jahrhundert 7 Reisepässe und 7 Geldwehrungen wechseln müssen ohne ihren Geburtsort mitten in Europa verlassen zu haben, und ich selber hatte auch schon eine schöne Sammlung von 3 verchiedenen Reisepässen von drei verschiedenen Ländern, die zugleich ein und dasselbe Territorium waren, angehäuft. Also war ich abgehärtet gegen den Verlust von Staatszugehörigkeit. Aber trotzdem: mit der EU ging die letzte große Utopie der europäischen Gesellschaft zu Ende, die Utopie meines Lebens, dass ich frei über mein Schicksal entscheiden könnte, mich entschließen würde, wo und wie ich leben möchte und es danach auch versuchen würde, irgendwo nach meiner Wahl besser zu scheitern. Wie mit jeder Utopie gab es auch beim Tod der letzten einen bitteren Überrest, einen, der, wenn nicht gleich ein unverdaulicher wie der der Blutwurst, dann wenigstens – mit den geflügelten Worten der Philosophen gesprochen – ein inkommensurabler wäre. Nicht das ich mir je gewünscht hätte aus meinen kleinen, langweiligen Land auszuwandern. Im Gegenteil. Die theoretische Möglichkeit jeden Tag, ja jede Minute frei einen Entschluss fassen zu können, mitten in einer Familienfeier vom gedeckten Tisch, oder mitten in einer Versammlung, kurz bevor man als Redner an der Reihe ist, mit dramatischen Gesten aufzustehen, den Raum erhobenen Hauptes zu verlassen und auswandern zu können, gab mir die verbissene Entschlossenheit gerade dort zu bleiben, wo ich herkam, wo ich fast jede Ecke kannte, meine Familie und Freunde hatte, womöglich sogar übertrieben und ganz und gar uneuropäisch mich in meine Sprache, meine Kultur, meine Stadt, mein Umfeld vertieft zu haben, lokale Geschichten aufgespürt, mich mit den lokalen Gegebenheiten abgefunden und immer aufs neue mit ihnen gespielt zu haben. Die Möglichkeit der unbekannten Fremde machte mir diese weniger attraktiv, und das für einen Fremden ganz und gar unattraktive Zuhause zu einem auserwählten Ort auf Erden. Doch die Möglichkeit der Wahl wurde mir jetzt durch einen Blutwursthappen, einen Prozeduralfehler, durch einen Mangel an Bürokratenmotivation, durch eine Brüsseler (oder war es eine Luxemburger? Oder gar Straßburger?) Intrigentragikomödie genommen, ganz und gar unheroisch, ungeniert, perfide und im Stillen, ohne Krieg, ja ohne dass ein einziger Tropfen Blut oder eine Träne vergossen wurde. Wie hätte ich da Lust haben können noch weiterzumachen mit meinem EU-Idealismus? Ich war so lebendig, wie die EU tot war, also scheinbar. Es gab keinen Leichnahm der EU, keinen Trauerzug, keine Bestattungszeremonie. Als 1914 der Leichnam von Erzherzog Franz Ferdinand von Triest nach Wien mit dem Zug überführt wurde, gab es kilometerlange Trauerspaliere. Als 1980 Tito starb, gab es ein Weltspektakel. Die EU starb, aber kein Hahn krähte, ja nicht mal die kleinen Spatzen zwitscherten dem Ereignis, das keines war, nach. Keiner der EU-Angestellten wurde nach dem Ende der EU des Amtes entlassen, sie wurden nur umbesetzt und mussten den Zerfallsprozess überwachen, mit dem es fast mehr Arbeit gab als mit dem zuvorigen Lebensprozess. Es gab nur halboffizielle Verkündungen der Art, das man im besten europäischen Einverständnis neue Wege suchen wolle, Gutes aus der Vergangenheit beibehalten, aber neue Regeln, Abgrenzungen, nationale Klarsicht und Gerechtigkeit schaffen, sich auf sich selbst wieder besinnen und eine neue Platform aufbauen möchte. Undsoweiter, undsoweiter. Ich kannte den rhetorischen Brei gut. Er half aber nicht gegen den Phantomschmerz und das fortan phantommäßige Dasein der totgesagten EU. Oder sollte ich eher vom vampirmäßigen Dasein sprechen? Wo Züge und Trucks, vollbeladen mit Ware, nachwievor uneingeschränkt die jetzt wieder dichten Nationalgrenzen der ehemaligen EU Staaten passierten, und wo Banktransaktionen nachwievor barrierefrei zwischen den Ländern und den paar alten und neuen Steueroasen im alten Kontinent hin und her flitzten, verwehrte die neue postmortale Existenz der EU lediglich meinem Körper, ungestört Pilze in Ostungarn zu suchen ohne über Stacheldraht klettern zu müssen, in Österreich an der Mur entlang Rad zu fahren, ohne von Grenzwächtern angehalten und belästigt zu werden, oder bei einer Abkürzung durch den Weinberg in Collio von neapolitanischen Carabinieri angeglotzt zu werden. Ich konnte es nicht umgehen, den Tod der EU als einen bösen Streich, ja als eine Verschwörung gegen mich persönlich zu verstehen. Die Blutwurst, die aseptischen Büros in Brüssel, Luxemburg und Strasburg, der politische Smalltalk, die Pfifferlinge in Ostungarn, die europäischen Bankoasen, alles hat sich über Jahre hinweg im Stillen auf perfideste Art und Weise wohl durchdacht so arrangiert, dass ich, Aleš Šteger aus Ljubljana, als blauäugiger, wenn nicht gar dummer, in jeden Fall aber als großer Verlierer und einziger Trauergast bei einer nie zu Ende geführten Beerdigung der EU aufgeflogen bin. Ich wurde verstimmter und immer deprimierter und lebte immer mehr in einer zunehmend idealisierten Vergangenheit, im Nachsinnen, wann, wo und wie ich hätte anders handeln hätten sollen, um den Sterbensprozess aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen. War ich mit meiner politischen Passivität nicht auch mitverantwortlich für die Misere? Aber es war zu spät für solche rhetorisch und emotionall aufgeladenen Fragen. Die Utopie von einem freien Europa war ein und für allemal vorbei. Überall gab es faulen Geruch von kleinkarierten nationalistischen Lokalpolitikern, deren Moment jetzt gekommen war. Ich konnte das nicht mehr ertragen. Ich brauchte einen Ausweg. Einen Ausweg, den es nicht gab.

Aleš Šteger

Aleš Šteger ist ein slowenischer Dichter, Essayist und Romanautor. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und seine Gedichte zahlreichen bekannten Magazinen und Zeitungen wie The New Yorker, Die Zeit, NZZ, TLS etc. veröffentlicht.

Aleš Šteger is a poet, essayist and novelist, writing in Slovenian. Štegers books have been translated into 16 languages and his poems appeared in internationally renown magazines and newspapers as The New Yorker, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, TLS and many others.

Aleš Šteger ist ein slowenischer Dichter, Essayist und Romanautor. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und seine Gedichte zahlreichen bekannten Magazinen und Zeitungen wie The New Yorker, Die Zeit, NZZ, TLS etc. veröffentlicht.

Aleš Šteger is a poet, essayist and novelist, writing in Slovenian. Štegers books have been translated into 16 languages and his poems appeared in internationally renown magazines and newspapers as The New Yorker, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, TLS and many others.

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