ELit Book Tip: Juliana Kálnay’s strong debut “A House which is Deep in the Bones”
Rainer Moritz
Novels can naturally be written about people who live on remote farms in the Markgraviate of Brandenburg or who spend their days in stately villas in even more elegant suburbs along the River Elbe. Usually, however, it is more rewarding for literature if they transform locations into stages where many characters meet for a while, share ideas and experience one thing and another. This explains why world literature is so rich with narratives set in hotels or at stations. It is also one reason for apartment complexes to be so ideally suited for interweaving stories and revealing characters in all their peculiarity.
In her debut novel, Juliana Kálnay (b. 1988), who studied creative writing at the University of Hildesheim, reverts to this kind of scenario. She generally relies on short chapters to describe what happened over many years in an apartment block Number 29. Yet readers who might expect her “Kurze Chronik des allmählichen Verschwindens” (“Brief Chronicle of Gradual Disappearance”) to emerge as a psychological social novel will soon feel disappointed. Juliana Kálnay has no intention of complying with realistic parameters. Her text follows various perspectives, moving to and fro in flashbacks and fast-forward scenes, thus outlining the contours of an apartment complex whose walls are not just transparent in the figurative sense. The old lady, Rita, is the focal point among two dozen residents or more. She has lived here for a long time. She knows everything and everyone. Thanks to a mirror placed on the balcony, she is fully informed about events on the street.
“There are people who are their house, and there are other people who only live in it”, is the opening of a chapter situated on the first floor, on the right. This reflects the narrative principle of this delightfully playful and courageous book. Kálnay’s tenants merge with their living accommodation. They devour each other in a very real way through walls, living as scarcely perceptible shadows in the basement, permanently nesting in the lift, filling rooms with jam jars and leaving their apartments without obvious any traces. The smells and sounds are superimposed on daily life and incredible things keep happening, so there is no reasonable distinction between the real and the surreal. For example, what is that rust-coloured connecting door that not everyone notices? Or the greedy creature called Kasi that finds a comfortable niche in a bidet? Not to mention Ronda’s goldfish which leave their aquarium without being asked and cosy up in their owner’s bed?
Juliana Kálnay’s house has no fixed boundaries. Indeed, it cannot even be said for certain where these demarcations lie between humans, animals and plants. Maia, who suddenly vanishes, is noticeable because of her “mole-like hands”. She loves to bury herself down holes – until apparently, she finds a last refuge at the town cemetery. And Lina living on the third floor must acknowledge that her husband Don in future prefers to go through life as a tree and to put down roots on the balcony. A metamorphosis, which surpasses Italo Calvino’s “The Baron in the Trees” for its radical quality, giving the writer the opportunity for a sensitive account of love-making between Lina and her ‘man-tree’. Among the genuine highlights of the novel is the account of how Lina rubs herself against the bark, moaning as she intertwines with a branch.
Juliana Kálnay artfully switches register. Dialogues in different typeface follow abrupt sentences and – if the narrator doesn’t suffer an entirely voluntary tumble downstairs – she moves on to staccato-like prose passages. “A brief chronicle of gradual disappearance” is unmistakably linked with magical realism that causes uncertainty and simultaneously circulates captivating charm. In a short afterword, the writer personally refers to her literary role models. Some chapters are consciously compiled as James Joyce and Julio Cortázar pastiches. Moreover, it almost goes without saying that the magnificent “house novel” – “Life a User’s Manual” – by the French author, Georges Perec is another point of comparison.
Despite these affinities, Juliana Kálnay finds an entirely unique, sympathetic and bizarre tone which radiates an assured style and only occasionally – even though a wall may be “obscured with curtains” – slightly misses the mark. Moreover, as the rather pretentious title hints neither Rita nor the walls of this house positioned between heaven and earth are made for eternity. At some point, Rita, the owner passes away, and later a fire breaks out – a leitmotif for the novel – and then the residents all disperse in different directions. Ultimately, however, one question hovers above it all, “It’s the house, it’s deep in my bones. Or am I the one who is stuck between the walls of the house?”
Translated by Suzanne Kirkbright
Juliana Kálnay: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens. Novel. Wagenbach Verlag, Berlin 2017. 189 pages.
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Juliana Kálnays starkes Debüt “Ein Haus, das in den Knochen steckt”
Natürlich lassen sich Romane über Menschen schreiben, die in einsamen Bauernhöfen in der Mark Brandenburg leben oder in noblen Villen in noch nobleren Elbvororten ihr Dasein fristen. Doch meistens ist es für die Literatur ergiebiger, wenn sie Orte zu ihren Schauplätzen macht, an denen viele Charaktere eine Zeit lang zusammentreffen, sich austauschen und dies und jenes erleben. Deshalb ist die Weltliteratur reich an Erzählungen, die in Hotels oder auf Bahnhöfen spielen, und deshalb eignen sich mehrstöckige Mietshäuser so wunderbar dafür, Geschichten miteinander zu verschränken und Menschen in ihren Absonderlichkeiten zu zeigen.
Die 1988 geborene Juliana Kálnay, die das Schreiben an der Universität Hildesheim gelernt hat, greift in ihrem Debüt auf ein solches Szenario zurück und hält in meist kurzen Kapiteln das fest, was sich in einem Mietshaus mit der Nummer 29 über viele Jahre ereignet. Doch wer erwarten würde, dass ihre „Kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ als psychologischer Gesellschaftsroman auftritt, sieht sich alsbald getäuscht. Denn Juliana Kálnay denkt nicht daran, realistische Vorgaben zu erfüllen. Ihr Text folgt unterschiedlichen Perspektiven, springt in den Zeitebenen hin und her und zeichnet so die Konturen eines Wohnhauses, dessen Mauern nicht nur im übertragenen Sinne transparent sind. Mittelpunkt der rund zwei Dutzend Bewohner ist die alte Rita, die seit jeher hier ihr Zuhause hat, über alles und jeden Bescheid weiß und dank eines Balkonspiegels selbst über die Geschehnisse auf der Straße bestens informiert ist.
„Es gibt Menschen, die sind ihr Haus, und es gibt Menschen, die wohnen nur darin“, heißt es zu Beginn eines – im 1. Stock, rechts, angesiedelten – Kapitels, und darin zeigt sich das Erzählprinzips dieses erfreulich verspielten, wagemutigen Buches. Kálnays Mieter verschmelzen mit ihrem Wohngehäuse. Sie fressen sich auf sehr reale Weise durch Wände, wohnen als kaum wahrnehmbare Schattenwesen im Souterrain, nisten sich dauerhaft im Aufzug ein, füllen Räume mit Marmeladengläsern und verlassen ihre Wohnungen, ohne Spuren zu hinterlassen. Gerüche und Geräusche überlagern den Alltag, und immer wieder ereignet sich Ungeheures, lässt sich zwischen Realem und Surrealem nicht sinnvoll unterscheiden. Was zum Beispiel hat es mit jener rostfarbenen Zwischentür auf sich, die nicht jeder sieht? Oder mit dem gefräßigen Wesen namens Kasi, das es sich in einem Bidet gemütlich macht? Ganz zu schweigen von Rondas Goldfischen, die unaufgefordert ihr Aquarium verlassen und sich im Bett ihrer Besitzerin ausbreiten?
Juliana Kálnays Haus kennt keine festen Grenzen. Ja, es lässt sich nicht einmal mit Sicherheit sagen, wo diese zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen verlaufen. Denn die plötzlich verschwundene Maia fällt durch ihre „Maulwurfshände“ auf und vergräbt sich liebend gern in Löcher – bis sie, so scheint es, eine letzte Zuflucht auf dem städtischen Friedhof findet. Und die im 3. Stock wohnhafte Lina muss anerkennen, dass ihr Gatte Don es vorzieht, künftig als Baum durchs Leben zu gehen und auf dem Balkon Wurzeln zu schlagen. Eine Metamorphose, die in ihrer Radikalität Italo Calvinos „Der Baron auf den Bäumen“ übertrifft und der Autorin die Möglichkeit gibt, glanzvoll einen Liebesakt zwischen Lina und ihrem Baum-Mann zu beschreiben. Wie sich Lina da an Rinde reibt und einen Ast stöhnend in sich aufnimmt, zählt zu den wahrlichen Höhepunkten des Romans.
Juliana Kálnay wechselt gekonnt die Register. Typografisch abgesetzte Dialoge folgen auf knappe Sentenzen und gehen – wenn die Erzählerin einen nicht ganz freiwilligen Treppensturz erleidet – in stakkatoartige Prosapassagen über. „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ ist unverkennbar einem magischen Realismus verhaftet, der Verunsicherung betreibt und gleichzeitig zauberhaften Charme verbreitet. In einem kurzen Nachwort verweist die Autorin selbst auf literarische Verwandte. Manche Kapitel sind so bewusst als James-Joyce- und Julio-Cortázar-Pastiches angelegt, und dass „Das Leben Gebrauchsanweisung“, der grandiose „Hausroman“ des Franzosen Georges Perec, ein Anknüpfungspunkt ist, verstehe sich fast von selbst.
Trotz dieser Bezüge findet Juliana Kálnay einen ganz eigenen, sympathisch skurrilen Ton, der Stilsicherheit ausstrahlt und nur gelegentlich – wenn eine Wand mit „Vorhängen verhangen“ ist – nicht ins Schwarze trifft. Und wie es der ein klein wenig prätentiöse Titel verheißt, sind weder Rita noch die Mauern dieses zwischen Himmel und Erde platzierten Hauses für die Ewigkeit gemacht. Irgendwann stirbt die Patronin Rita, irgendwann breitet sich Feuer – ein Leitmotiv des Romans – aus, und irgendwann verstreuen sich die Bewohner in alle Richtungen. Eine Frage schwebt am Ende dennoch über allem: „Es ist das Haus, es steckt mir in den Knochen. Oder bin ich es, die dem Haus in den Mauern steckt?“
Juliana Kálnay: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens. Roman. Wagenbach Verlag, Berlin 2017. 189 Seiten.