Der Roman, für den Mathias Enard 2015 den Prix Goncourt erhalten hat, führt den Erinnerungen eines schlaflosen Musikwissenschafters entlang in den Orient. Was darin nicht fehlt: eine Liebesgeschichte.
Mathias Enard ist mit seinem Goncourt-Preis-gekrönten «Kompass» ein Meisterwerk geglückt – er verschränkt akademisches Wissen mit einer aussergewöhnlichen Liebesgeschichte. «Kompass» führt uns in einen Orient zurück, der die westliche Kultur geprägt hat und dessen Spuren in der Musik, der Literatur und der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden sind. Der Roman steht in der Tradition der Orientreise, die Chateaubriand mit «Itinéraire de Paris à Jérusalem 1811» im frühen 19. Jahrhundert begann und die das Morgenland zum Sehnsuchtsort des nostalgischen Dichters machte.
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Der Roman, für den Mathias Enard 2015 den Prix Goncourt erhalten hat, führt den Erinnerungen eines schlaflosen Musikwissenschafters entlang in den Orient. Was darin nicht fehlt: eine Liebesgeschichte.
Mathias Enard ist mit seinem Goncourt-Preis-gekrönten «Kompass» ein Meisterwerk geglückt – er verschränkt akademisches Wissen mit einer aussergewöhnlichen Liebesgeschichte. «Kompass» führt uns in einen Orient zurück, der die westliche Kultur geprägt hat und dessen Spuren in der Musik, der Literatur und der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden sind. Der Roman steht in der Tradition der Orientreise, die Chateaubriand mit «Itinéraire de Paris à Jérusalem 1811» im frühen 19. Jahrhundert begann und die das Morgenland zum Sehnsuchtsort des nostalgischen Dichters machte.
Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des Musikwissenschafters Franz Ritter, der in der Stille und Leere einer schlaflosen Nacht in Erinnerungen gräbt. Zwischen 23 Uhr abends und 7 Uhr morgens hält er in einer Wiener Wohnung konzentriert Rückschau. Allenfalls stören ihn das Kommen und Gehen des Nachbarn mit seinem unsäglichen Hund, die Strassenbahn oder – wenn er schliesslich tief in der Nacht einen Kräutertee kocht – die Weltnachrichten, die das Nachtprogramm des österreichischen Radiosenders vermeldet. Der aktuelle Syrienkrieg ist als Hintergrund allgegenwärtig. In «Kompass» wird der Dichter zum nächtlichen Wächter der Ruinen unserer Zeit.
Wie der Erzähler von Gérard de Nervals Novelle «Sylvie», der sich während einer schlaflosen Nacht in die Reminiszenzen an seine Jugend gedanklich einschliesst, taucht Enards Erzähler weg in eine «halb geträumte Erinnerung». Der Auslöser sind eine besorgniserregende medizinische Diagnose und die Angst vor dem Tod, die Franz Ritter erfasst. Er bemüht sich, nicht zu denken, sich auf das Atmen zu konzentrieren oder wenigstens seine Gedanken zu den glücklichen Orten seiner Vergangenheit zu lenken, womit er einem amerikanischen Ratgeberbuch über Schlaflosigkeit («go to your happy places») folgt. Während dieser Spaziergänge in eine glücklichere Vergangenheit, die ihn aus Wien und Paris nach Istanbul, Palmyra, Aleppo und Teheran reisen lassen, führt er Selbstgespräche mit den wichtigsten Protagonisten seiner Vergangenheit. Als Musikwissenschafter weiss er, welche Einflüsse der Orient auf die westliche Musik ausgeübt hat, besonders auf Liszt, Hindemith und Bartók, und kennt auch die vielen orientalischen Motive, die die europäische Musik aufgegriffen hat, von Mozarts «Rondo alla turca» bis zu Franz Schuberts und Felix Mendelssohns Vertonungen von Goethes und Rückerts orientalischen Gedichten. Seine Erinnerungen zeichnen eine Sammlung von Porträts von liebenswürdigen und melancholischen Orientalisten, die an den Orient-Instituten Frankreichs und Deutschlands mit einer Mischung aus Spleen und Leidenschaft ihren wenig beachteten Studien nachgehen: ein Opiumraucher, ein Verehrer des persischen Dichters und Mystikers Hafis sowie ein junger Franzose, der sich die politische Causa der Opposition in Teheran zu eigen macht und dort schliesslich auch verhaftet wird.
Aus solchen Porträts sticht die Literaturwissenschafterin Sarah hervor, die über die westlichen Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts im Orient forscht. Deren Reisedrang erklärt sie mit einem «Riss in der Seele», einer Melancholie. Historisch begibt sich Chateaubriand als erster auf die Reise und unterscheidet sich von seinen wissenschaftlich motivierten Vorgängern des 18. Jahrhunderts. Denn er reist nicht, um etwas verstehen zu können, um etwas zu vergleichen oder zu bemessen, vielmehr sucht er im Orient eine neue Heimat. Generationen von Dichtern – Lamartine, Nerval, Gautier u. a. – werden ihm folgen und seine nostalgische Suche fortsetzen. Sarah ist die Hauptadressatin der nächtlichen Sehnsüchte des Erzählers. Er erinnert idyllische Momente ihrer Beziehung, grübelt über manche missglückte Begegnung und rätselt über ihr langes Schweigen zuletzt.
Im Einklang mit der Einsamkeit des Erzählers öffnet und schliesst der Roman mit einem Zitat aus Schuberts «Winterreise»-Zyklus. Doch am Ende des Romans wird das nächtliche Lamento mit einem tatsächlichen menschlichen Austausch unterbrochen – ein Lichtschein am Ende einer langen Nacht. Auch hat Enards Blick auf den Orient etwas Versöhnliches, ähnlich dem Alexander von Humboldts, der sein «Alles ist Wechselwirkung» nicht nur auf das organische Leben bezog, sondern auch auf die Kultur.
Diese Wechselwirkung sieht Enard in der Beziehung zwischen Orient und Okzident am Werk. Er erforscht weniger die im Orient obwaltenden Machtstrukturen, die Edward Said in seinem Buch «Orientalism» (1978) zur Schau stellte. Enards Orientbild ist auch keine Projektion des Westens, kein «Anderes», das man gezielt verkennt, um es beherrschen zu können, und es ist auch keine Männerphantasie rund um den Harem. Es steht eher für eine Moderne, die sich aus einem fruchtbaren Zusammenprallen von Orientalisten entwickelt hat, Franzosen, Deutschen und Österreichern. Joseph von Hammer-Purgstalls (1774–1856) Übersetzungen der Märchen aus «Tausendundeiner Nacht» und des «Diwan des Hafis» beeinflussen nicht nur Rückert, Hofmannsthal und Goethe, sondern auch Hugo und Balzac. So ist Enards gelehrter und poetischer Spaziergang durch diese Netzwerke auch als Hommage an die Kunst zu lesen, die uns beglückt.
Mathias Enard: Kompass. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser-Verlag Berlin, Berlin 2016. 432 S., Fr. 37.90.