Wilhelm Genazino buchstabiert sein altes Thema in höchster Virtuosität

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino schickt in seinem neuen Roman einen alternden Stadtflaneur und obsessiven Erotiker ins Getümmel der Gefühle.

Roman Bucheli

Mit Hingabe schickt Wilhelm Genazino seine verstockten Romanfiguren in die Vorschule des Unglücks. (Bild: Bernd Hartung / Agentur Focus)

Im Leben taugen diese traurigen Figuren nichts. Noch nicht einmal so viel, dass man sie als fröhlich unbekümmerte Taugenichtse bezeichnen möchte. Sie sind farblos, unscheinbar, es sind Duckmäuser, Angsthasen. Sie sind weder tragisch noch komisch, sie sind nichts. Als Romanhelden aber laufen sie zur Höchstform auf. Ihre Tragik weitet sich zur Komik, sie sind nichts und darum alles, ihre Laufbahn im Beruf, in der Liebe, in allem kennt nur eine Richtung: abwärts ins Unglück und ins Verderben.

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Wilhelm Genazino buchstabiert sein altes Thema in höchster Virtuosität

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino schickt in seinem neuen Roman einen alternden Stadtflaneur und obsessiven Erotiker ins Getümmel der Gefühle.

Roman Bucheli

Mit Hingabe schickt Wilhelm Genazino seine verstockten Romanfiguren in die Vorschule des Unglücks. (Bild: Bernd Hartung / Agentur Focus)

Im Leben taugen diese traurigen Figuren nichts. Noch nicht einmal so viel, dass man sie als fröhlich unbekümmerte Taugenichtse bezeichnen möchte. Sie sind farblos, unscheinbar, es sind Duckmäuser, Angsthasen. Sie sind weder tragisch noch komisch, sie sind nichts. Als Romanhelden aber laufen sie zur Höchstform auf. Ihre Tragik weitet sich zur Komik, sie sind nichts und darum alles, ihre Laufbahn im Beruf, in der Liebe, in allem kennt nur eine Richtung: abwärts ins Unglück und ins Verderben.

In ausgeleierten Unterhosen

Übermenschlich ist ihre stumme Leidensbereitschaft, ihre Hingabe ans Verderben, das sie immer als unvermeidlich, als Schicksalsschlag akzeptieren. In ihrer Wehrlosigkeit haben sie etwas Heroisches, sie sind Monumente der Selbsterniedrigung. Und Wilhelm Genazino ist ihr unermüdlicher Schöpfer: Seit Jahren zeichnet er an diesem Bestiarium der Geknickten, an dieser Galerie des alltäglichen Schreckens mit ihren durchsichtigen Antihelden.

Virtuoser berichtet derzeit keiner aus der Vorschule des Unglücks, keiner porträtiert eleganter und hartnäckiger die Dienstverweigerer des spätmodernen smarten Daseins. Wilhelm Genazino scheint eine geradezu unerschütterliche Zuneigung gefasst zu haben zu den pathetisch selbstgenügsamen Aposteln der Unscheinbarkeit in ihren zerschlissenen Unterhemden und ausgeleierten Unterhosen, die sich als die rechtmässigen Witwer ihrer Mütter ausgeben und sich diesen Status – Zivilstand würden sie es gerne nennen, wenn sie nur dürften – auch von keiner Freundin oder Frau vermiesen lassen.

Genazino feiert in seinen Romanen nicht etwa die Wiederauferstehung von Gontscharows Oblomow. Seine Bücher handeln nicht von habituellen Versagern. Er schreibt auch keine Sozialreportage aus den Provinzen der Vorstädte mit ihren im Prozess der Modernisierung gestrandeten Existenzen. Vielmehr hat Genazino in den letzten Jahren in einer Reihe von Romanen einen neuen Typus des Exzentrikers geschaffen. Sein jüngster Romantitel – «Ausser uns spricht niemand über uns» – bringt die Befindlichkeit dieser charismatischen Helden wider Willen auf die kürzeste Pathosformel: Unerkannt und also unerlöst gehen sie durchs Leben.

Der Mensch als Überbleibsel

Er sei Rundfunksprecher von Beruf, sagt der Ich-Erzähler in Genazinos neustem Roman. Aber dieser Beruf sei lediglich das Überbleibsel eines grossen Wunsches, der sich nicht erfüllt habe, fügt er hinzu. «Tatsächlich hatte ich immer Schauspieler werden wollen, nicht irgendeiner, sondern einer, der . . . ach, ich spreche es nicht aus.» Was immer dieser kummervolle Held im Leben tut, es ist das Überbleibsel einer einst grossen Hoffnung, eines grossen Versprechens, einer grossen Sehnsucht.

Der Mann selbst ist lediglich noch ein Überbleibsel, ein Hinterbliebener, verlassen von der Mutter, später von der Freundin, verlassen auch von allen guten Geistern. Nur er selbst bleibt sich und seiner leicht vergammelten Unterwäsche treu. Nicht aus Behaglichkeit oder Bequemlichkeit, aber weil er beim Anblick des sanften äusseren Zerfalls ein wenig Trost findet in der Sorge über das unaufhaltsame innerliche Ausfransen. Trost und stummer Protest: Der Widerstand gegen die Zumutungen des Alltags camouflieren Wilhelm Genazinos Figuren auf die seltsamsten Weisen.

Mit peinlicher Genauigkeit zeichnet Genazino die Tapferkeit nach, mit denen seine lebensuntauglichen Männer ihr Schicksal erdulden.

In den prekären Verhältnissen ihres Arbeitslebens – der Ich-Erzähler arbeitet auf Abruf für den Rundfunk – spiegelt sich das umfassende Prekariat ihres Daseins. Einerseits im Stich gelassen von den Müttern, fürchten sie anderseits nichts so sehr wie eine Nachkommenschaft. Darum spannt sich ihr Leben auf zwischen zwei Leerstellen, sie hängen nicht nur in der Luft, sie sind eine lebenslängliche Hängepartie. Irgendwann muss der liebe Gott ihrer überdrüssig geworden sein, oder er hat nicht mehr gewusst, wie es mit ihnen weitergehen soll. Der grosse Marionettenspieler hält zwar noch die Fäden in der Hand, aber er zieht nurmehr lustlos und ideenlos daran. Sie führen nun die immer gleichen paar Tanzschritte aus.

Im Leben möchte man Genazinos Figuren nicht allzu oft begegnen. In seinen Büchern kann man nicht genug davon kriegen (eine Aufgeschlossenheit gegenüber dieser seltsamen Art des Unglücks vorausgesetzt, das sei nicht verschwiegen). Denn mit geradezu bewundernswerter Emphase und Langmut, ja, mit peinlicher Genauigkeit zeichnet Genazino die Tapferkeit nach, mit denen seine lebensuntauglichen Männer ihr Schicksal erdulden. Nie würde Genazino seine Figuren diffamieren oder blossstellen, nie würde er sich auf ihre Kosten einen billigen Witz oder ein Spässchen erlauben.

Unkonventioneller Humor

Die innere Widerborstigkeit dieser Romane entsteht allein aus der bockigen Natur ihrer Figuren, die sich von allem aus der Ruhe bringen lassen und die am Ende doch nichts erschüttert. Vielleicht ist diese Komik gerade darum nicht für alle gleichermassen geniessbar. Auch Genazinos Rundfunksprecher, als Romanheld ein Abkömmling und Seelenverwandter seiner Vorgänger, unternimmt wie diese keine Anstrengung, seine etwas stereotyp wirkende Erotomanie zu kaschieren. In seiner Kunst des täglichen Scheiterns verbindet sich Dünkel mit Spiessertum. Und mit der gelegentlichen Weinerlichkeit drapiert er lediglich in aufreizender Nachlässigkeit sein angeborenes Macho-Wesen.

Nein, solche Typen sind gewiss nicht jedermanns Sache, und der Humor dieser Romane ist nun allerdings nicht von der konventionellen Sorte. Es kommt hinzu, dass Genazino keineswegs in aufklärerischer, geschweige denn in anklägerischer Absicht unentwegt diese merkwürdigen Gestalten in die Umlaufbahn ihrer ausweglosen Existenzen schickt. Es muss ihn vielmehr ein genuines Interesse – um es nicht Obsession zu nennen – für das Schicksal dieser weidwunden Figuren umtreiben. Als Phänomenologe der Komik im Unglück und des Unglücks in der Komik hat er mittlerweile eine Kunstfertigkeit erreicht, die leicht zur Selbstnachahmung verführen könnte, wäre sie nicht mit Selbstironie gepaart.

Eine aparte Pointe

Für seinen jüngsten Helden hat darum Genazino wiederum ein zweifelhaftes Liebesglück ausersehen, in dessen Folge ihm, ohne dass ein direkter Zusammenhang bestünde, ein Zahn zu wackeln beginnt. Ist es Wunschdenken und Regression in die Kindheit, da mit den zweiten Zähnen ein neues Leben begann? Ist es der Anfang vom Ende, da die ausfallenden Zähne das Erschlaffen der Manneskraft und überhaupt den Tod ankünden? So hält Genazino seine Figur noch einmal ins vermeintlich Offene.

Und gleich regen sich die rebellischen Geister auf ihre eigene, verstockte Art: «Gegenüber der verbreiteten Vorstellung, dass unsere Welt verständlich sei, fühlte ich in mir einen harten Kern, der auf Unverstandensein beharrte.» Tragikomischer hat sich die Halsstarrigkeit des Misanthropen nie verkleidet. Nicht vollends verstanden zu sein: Das ist der kümmerliche und zugleich grandiose Rest seiner Menschlichkeit.

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