Ein junger Meister des Noir aus Japan
von Carsten Germis
Fuminori Nakamura begeistert nach den japanischen auch die amerikanischen Leser. In Deutschland ist er, zu Unrecht, kaum jemandem bekannt
„Chotto hen“, ein bisschen verrückt, so beschreiben viele Japaner, die seine Krimis gelesen haben, Fuminori Nakamura. Wer von vielversprechenden Neuentdeckungen im japanischen Noir sprechen will, der kommt an Nakamura nicht vorbei. Der Schriftsteller, Jahrgang 1977, hat sich selbst als Pessimisten bezeichnet, als dunkle Persönlichkeit. Er gehört zu denen, die den Anpassungsdruck der japanischen Gesellschaft nur schwer ertragen. Missbrauchte Kinder, skrupel- und gewissenlose Gangster, korrupte Politiker, Verschwörungstheorien – seine Bücher durchleuchten die Schattenseiten der japanischen Gesellschaft ohne Gnade. Noir ist für Nakamura eine der Formen, in denen Schriftsteller dem Misstrauen Ausdruck verleihen können, mit dem immer mehr Menschen der modernen massendemokratischen, kapitalistischen Gesellschaft begegnen. In Japan, sagt er, sei dieses Misstrauen nach der Atomkatastrophe in Fukushima 2011 und den Vertuschungsversuchen der wirtschaftlichen und der politischen Elite des Landes geradezu entfesselt worden. „Chotto hen“ mögen manche Leser finden, was er schreibt. Und doch zeigt der Erfolg Nakamuras in Japan, dass er mit seinen Romanen eine Sehnsucht nach einer gerechteren, nach einer menschlicheren Gesellschaft ausdrückt, die sich nicht nur in Japan viele Menschen wünschen.
In Japan ist Nakamura als Kriminalschriftsteller lange schon anerkannt. Bereits für seinen ersten Roman – „Gewehr“ in deutscher Übersetzung – erhielt er 2002 den angesehenen Shincho-Preis für Erstlingswerke. 2005 folgte der hoch angesehene Akutagawa-Preis, eine Art literarischer Ritterschlag. Anders als in Deutschland unterscheiden japanische Leser, aber auch die Jurys für Literaturpreise, nicht so dogmatisch zwischen „E“ und „U“, zwischen vorgeblicher Hochliteratur der Zeitungsfeuilletons und Unterhaltungsliteratur. Auch ein guter Noir kann da als gute Literatur anerkannt werden. Für seinen 2009 in Japan erschienen Roman „Suri“ (Der Dieb) erhielt Nakamura im selben Jahr den Oe-Preis. Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburo Oe zeigte sich danach begeistert von der Wahl der Jury. Tief beeindruckt sei er gewesen von dem Buch, sagte er. „Es ist einfach frisch.“
Mit „Der Dieb“ wurde der Japaner jetzt auch im Westen entdeckt. Unter dem Titel „The Thief“ erschien es 2012 bei Soho Press in New York. Das „Wall Street Journal“ lobte den Roman als „aufregenden, psychologischen Thriller“ und siedelte Nakamura als Schriftsteller zwischen Patricia Highsmith, Dostojewski und dem japanischen Kultautoren Yukio Mishima an. Der Ich-Erzähler in „The Thief“ ist ein kleiner Taschendieb, eine Art Robin Hood in Tokio. Er stiehlt von den Reichen – die ihren Wohlstand in der japanischen Hauptstadt ziemlich ungeniert zur Schau tragen – und gibt, wenn sie in Not sind, auch schon mal den Armen. Der alleinerziehenden Mutter zum Beispiel, die sich prostituiert, und deren Sohn der Ich-Erzähler beim Ladendiebstahl entdeckt. In beiden Büchern, die bislang ins Englische übersetzt worden sind, zieht sich durch die dunklen Seiten des Noir eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit – und nach Liebe.
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