Warum lesen Sie gerade diesen Text? Weil Sie sich langweilen? Werden Sie schon nervös, wenn Sie zehn Minuten mal nicht auf Ihr Smartphone schielen können? Trösten Sie sich: Unsere Autoren, der Psychologe und Hirnforscher Niels Birbaumer und der Philosoph und Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau wissen zu berichten: Wir alle fürchten uns vor innerer Leere. Aber wir sehnen und verzehren uns auch nach ihr. Denn sie erlöst uns von der nimmermüden „Gedankenpumpe“ unter unserer Schädeldecke – und sie öffnet uns die Tore zu neuen Erlebniswelten.
von Jörg Zittlau
Hand aufs Herz: Können Sie noch Leere ertragen? Halten Sie es noch aus, wenn der Fernseher, das Radio oder das Internet ausfällt, wenn Sie mal nichts tun können, keine Ablenkung und niemand da ist für die Konversation? In einer Umfrage unter jungen Männern und Frauen gaben zwei Drittel zu, dass sie auf einer einsamen Insel eher auf Sex verzichten könnten als auf ihr Smartphone. In anderen Umfragen zeigte sich, dass viele Menschen vor Langeweile ähnlich viel Angst verspüren wie vor einem Krebsgeschwür. Nach dem Muster: Besser todkrank, als leer.
An der University of Wisconsin setzte man gesunde, nicht-masochistisch veranlagte Menschen in einen Raum, in dem sie lediglich ihre Zeit absitzen sollten – trotzdem würde man ihnen am Ende ihre Teilnahmegebühr auszahlen. Auf dem Tisch stand ein Gerät, mit dem sie sich selbst einen ungefährlichen, aber unangenehmen Stromschlag verpassen konnten. Man sollte erwarten, dass die überwiegende Mehrheit lieber ihre beschäftigungslose Zeit absitzen würde. Doch tatsächlich verabreichten sich zwei Drittel der Männer gleich mehrere Elektroschocks, ihr Durchschnittswert lag bei etwas mehr sieben Schlägen pro Viertelstunde Beschäftigungslosigkeit.
Wie stark sich unsere Erlebnisgesellschaft vor der Leere fürchtet, zeigt sich auch darin, dass knapp 30 Prozent der Bundesbürger eine Patientenverfügung unterschrieben haben. Darin wird festgelegt, dass man die lebenserhaltenden Maßnahmen abzuschalten hat, sofern der Patient nur noch regungslos im Bett liegt. Die Angst vor diesem Zustand der absoluten Untätigkeit ist so groß, dass man lieber tot sein will.
Doch es lohnt sich, diese Sichtweise zu überdenken.
Twilight statt Obacht
Denn Leere ist auch eine Chance, um unser Leben vom Alltag zu emanzipieren, ihm eine neue Richtung zu geben und es zu einer neuen Erlebniswelt zu führen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil unser Gehirn weit mehr ist als nur eine Zentrale des Denkens. Es ist sogar ein Organ, das gerne gedankenlos ist und sich bestens auf die Technik der Leere versteht. Philosophen wie Nietzsche, Schopenhauer und auch die Meister des Zen-Buddhismus haben dies bereits angedeutet, wenn sie vom „interesselosen Subjekt der Erkenntnis“, vom „Glück des absoluten Augenblicks“ oder dem „Segen der Hoffnungslosigkeit“ gesprochen haben. Und die moderne Hirnforschung liefert weitere Belege für die Lust an der Leere.
So entdeckte man, dass unser Gehirn im Leere-Zustand vorzugsweise im „Twilight-Status“ arbeitet, bei dem die Neuronen im niederfrequenten Wellenbereich feuern und der Thalamus seine Pforten schließt, so dass weniger Reize in den oberen Hirnregionen ankommen. Das Gehirn hat also einen ausgewiesenen Leere-Mechanismus. Das Faszinierende aber ist, dass es ihn ausgesprochen gerne aktiviert. Wir sind „Leere-affin“. So sehr uns Leere auch Angst machen kann, so sehr zieht sie uns auch an. Was erstaunlich ist, weil sie ja eigentlich nichts, also keine konkrete Belohnung zu bieten hat, die im Gehirn ein Bestreben in eine Richtung auslösen könnte. Wir müssen uns demnach fragen: Was gibt uns die Leere, dass wir den Weg zu ihr suchen?
Bei näherer Betrachtung ergeben sich erstaunlich viele Antworten darauf. So bedeutet Leere, dass unsere Defense-Systeme zur Ruhe kommen. Sie sitzen vor allem in den tieferen Regionen des Gehirns und ihre Aufgabe besteht darin, möglichst frühzeitig Gefahren aufzuspüren, weswegen die Menschheit ohne sie zweifelsohne nicht überlebt hätte. Andererseits sorgen sie jedoch auch, wie es der Sozialpsychologe Martin Seligman treffend ausgedrückt hat, für ein „katastrophisches Gehirn“: Wir wähnen überall Gefahren. Und das bedeutet in einer Welt wie der unsrigen, die sehr komplex ist und entsprechend viele potentielle Gefahren zu bieten hat, dass die Gedankenpumpe permanent mit Gefahrenabwehr beschäftigt ist. Die Defense-Systeme sind mehr oder weniger im Dauereinsatz, was an den Kräften zehrt und – wie Psychosomatiker immer wieder betonen – vielen Krankheiten den Weg bereitet. Die Leere kann hier eine Pause schaffen und für Entlastung sorgen. Durch sie verlieren die Dinge an Bedeutung und damit auch an Problematik – und so gibt es keine Veranlassung mehr, die Defense-Systeme zu aktivieren.
Doch Leere ist mehr als nur ein Abschalten. Sie kann auch neue Reize schaffen. Was zunächst absurd klingt, weil das Nichts wohl kaum etwas erschaffen könnte. Doch wenn die Hirnwellen einen sanft wogenden Ozean niederfrequenter Wellen bilden, können aus ihm leichter hochfrequente Inseln der Achtsamkeit herausragen. Stecken wir Menschen in eine Isolierzelle, in dem neben dem Hören, Sehen, Tasten und Schmecken auch – mittels einer Salzlake, in der man wie in Schwerelosigkeit schwebt – der propriozeptive Sinn für den eigenen Körper heruntergefahren wird, fühlen sie sich nicht nur pudelwohl und tief entspannt. Viele berichten auch davon, dass ihnen in diesem Zustand der „Sinn-Losigkeit“ neue, kreative Ideen kamen. Als hätte ihr Gehirn eine Art „Reset“ erlebt. Bei der Meditation konnten wir in unseren Labors in Tübingen etwas Ähnliches beobachten: ein Hirnwellenmeer der Leere, aus dem vereinzelt Felsen der „absoluten und interesselosen Achtsamkeit“ herausragen.
Aber auch Musik, Tanz, Sex, Religion und Epilepsie führen zur Leere. Und es gibt noch viel mehr, dem wir es auf den ersten Blick nicht zutrauen wollen. Wie etwa das Gejohle in den Fußballstadien und das Marschieren im Gleichschritt. Es gibt Sportler, die beim Bergsteigen, Rudern oder Marathon in einen „Leere-Flow“ geraten – anderen Menschen reicht dafür das Bügeln. Viele Drogen fördern ebenfalls die Leere, doch ihre Nebenwirkungen sind zum Teil beträchtlich (wenn auch nicht so dramatisch, wie von Drogengegnern behauptet wird). Wir selbst haben in Tübingen schon intensive Leere-Erfahrungen mit Curare gemacht, doch das Pfeilgift führt bekanntlich zur Komplettlähmung und ist damit ohne Beatmung durch einen erfahrenen Anästhesisten nicht anwendbar. Womit wir zu einem entscheidenden Punkt kommen, den es auf dem Weg zur Leere zu berücksichtigen gilt.
Für Leere muss man mutig sein
Wenn ich dem Anästhesisten nicht vorbehaltlos vertraue, mache ich kein Experiment, das die Atmung lähmt. Und wer nicht vertraut, bleibt vorsichtig und ängstlich – und kann keine Leere erreichen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf Curare. Wer halbherzig meditiert oder im Isolier-Tank immer wieder zum Ausgang schielt, wird auf diesen Wegen keine Leere schaffen können. Ein mäßiger Musiker kann sich weniger in Musik verlieren als ein versierter Profi, der sich weniger auf das handwerkliche Beherrschen seines Instruments konzentrieren muss. Komplette Locked-in-Patienten erreichen eine höhere Lebensqualität als Querschnittgelähmte, weil sie vermutlich mit ihrem Schicksal und ihrem Verlust abgeschlossen haben. Positive Leere kann eben nur dann eintreten, wenn wir uns ihr kompromisslos und vertrauensvoll hingeben und nicht betrauern, was wir durch sie verlieren. Wir dürfen keine Alternative zu ihr sehen, keine Angst vor ihr haben, aber auch nichts von ihr erhoffen. Anders funktioniert sie nicht.
Mancher Leser wird sich nun die Frage stellen: Wovon reden die überhaupt? Was ist denn überhaupt diese Leere, die nur ohne Angst, Misstrauen, Trauer, Erwartung und Alternativen zu ihr funktionieren kann? Wir haben lange darüber debattiert, welche Definition von Leere wir geben könnten. Wir entdeckten zahlreiche neue Aspekte – aber keine Definition. Was daran liegt, dass sie das Fehlen von Etwas ist, von Struktur, Form, Inhalt, Bedeutung und allen anderen Dingen, die wir als Krücken für unser Denken brauchen. Wie soll man so etwas definieren? Oder liegt vielleicht darin schon die Definition? Wir wissen es nicht. Aber wer ein Buch über Leere schreibt, muss das aushalten können. Und wer ein Buch über Leere liest, vermutlich auch.
Das Buch
Kaum etwas macht uns mehr Angst als die innere Leere. Doch es gibt auch die produktive, gute Leere. Durch Meditation, Konzentration, Musik oder auch beim Sex können wir diesen Zustand erreichen – unser Gehirn liebt die Leere, sie macht uns glücklich.
Kein Wissen mehr um das eigene Ich. Selbst die Worte sind verschwunden: Man liest nicht, spricht nicht, auch das Denken scheint versiegt. Eine beängstigende Vorstellung. Die vermutete Leere von Koma und Locked-in schreckt uns so sehr, dass wir sogar Patientenverfügungen unterschreiben, damit man uns diese Zustände erspart. Doch dieser negativen Leere kann man auch einen positive entgegensetzen: Unser Gehirn ist weit mehr als nur eine Zentrale des Denkens. Es ist auch ein Organ, das gerne gedankenlos ist. Die aktuelle Hirnforschung liefert weitere Belege für die Lust an der Leere und zeigt, wie wir sie für uns nutzen können – zumal in einer Welt, die von uns ständige Aktivität erwartet.
Links
Denken wird überschätzt auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Wow, mehr gibt es da nicht mehr zu sagen 😉 <3