Karolina Ramqvist: „Die Emanzipation der Frauen ist immer noch etwas vergleichsweise Neues.“

Die schwedische Autorin Karolina Ramqvist gilt als eine der einflussreichsten feministischen Stimmen ihrer Generation. Im Interview erzählt sie, an welche Grenzen Frauen in der heutigen Gesellschaft stoßen, wie stark der weibliche Körper noch immer im Fokus steht und wie sie sich beim Schreiben ihren eigenen Tabus stellt. 

 

Titel

Foto: Jasmine Storch

 

Du bist in einer sehr progressiven Familie aufgewachsen. Welchen Einfluss hatte deine Erziehung auf dein Interesse am Feminismus?

Als ich zwölf war, besuchte ich mit meiner Mutter, ihrem Mann und meinen Großeltern die Villa, in der meine Großmutter in den 1930er Jahren für eine Familie als Dienstmädchen gearbeitet hatte. Sie erzählte mir oft, wie toll diese Menschen waren und wie gut sie sich um sie gekümmert hätten. Wir standen also vor diesem riesigen Haus, und ich war davon gerührt, dass sie in Erinnerungen an die wunderbare Zeit schwelgte, die sie dort gehabt hatte, aber die anderen waren es nicht.

Sie wollten nicht, dass sie so etwas sagte. Trotz ihrer Intelligenz und Warmherzigkeit  weigerten sie sich wegen ihrer politischen Ansichten, die persönliche Erinnerung eines Menschen, den sie liebten, wertzuschätzen. Sie konnten nicht akzeptieren, dass sich meine Großmutter, die Klassenunterschiede ebenso kritisch beurteilte wie sie, diesen Menschen, die einmal ihre Herren gewesen waren, noch immer verbunden fühlte. Von diesem Augenblick an war in mir die Wachsamkeit gegenüber dem dogmatischen Denken geweckt, und ich wurde kritischer gegenüber den Vorstellungen, mit denen ich aufgewachsen war – den Vorstellungen der sozialdemokratischen und der feministischen Bewegung.

Wenn ich schreibe, möchte ich es normalerweise mit meinen eigenen Grenzen und Tabus aufnehmen. Meine Mutter war eine Feministin der 68er-Bewegung. Sie zog mich nach dem Ideal der unabhängigen und starken Frau groß. Früher versuchte ich, dem gerecht zu werden, aber als ich größer und besonders als ich zur Schriftstellerin wurde, erkannte ich, dass mein Interesse woanders liegt. Ich neige dazu, Frauen zu porträtieren, die, wie ich, nicht besonders stark und keine guten Vorbilder, dafür aber menschlich sind. Und ich bin überzeugt, dass es beim Feminismus um das Recht geht, ein menschliches Wesen zu sein.

Und wie beurteilst du die Rolle des Körpers, besonders mit Blick auf deine Protagonistin, Karin, deren Körper sich nach der Geburt ihres Kindes so stark verändert hat?

Der Körper entscheidet immer noch darüber, wie wir als Menschen wahrgenommen werden und welche Machtinstrumente uns zur Verfügung stehen. Karin hat kürzlich ein Kind bekommen und stillt es. Ihr Körper war immer einer ihrer Vorzüge, jetzt wird er vor allem von ihrem Kind in Anspruch genommen. Solange ich zurückdenken kann, habe ich mich für den weiblichen Körper interessiert. Wie viele andere Feministinnen der dritten Welle auch, wollte ich mich mit aller Kraft gegen seine Romantisierung wehren, gegen den Kult der Frau als biologisches Geschöpf, der in den 70ern und 80ern so dominant war. In diesem Sinne war das für mich eine Art verbotenes Territorium, was die Sache umso reizvoller machte. Außerdem habe ich drei Kinder, da war also auch das Bedürfnis, das Wesen des Gebärens, des Stillens und der ganzen Veränderungen des weiblichen Körpers irgendwie zu erfassen.

Als ich mit dem Schreiben anfing, hatte ich das Gefühl, dass das Motiv des Stillens irgendwie abgedroschen ist, ich dachte, dass die Literatur schon voll von Beschreibungen darüber wäre, aber dann konnte ich nicht besonders viele große Romane finden, die es so in den Vordergrund rückten, wie ich es vorhatte.

Wenn ich schreibe, möchte ich es normalerweise mit meinen eigenen Grenzen und Tabus aufnehmen.

Karin ist durch Johns Abwesenheit geschwächt und kaum in der Lage, sich um sich selbst und ihr Kind zu kümmern. Wie verträgt sich diese Abhängigkeit mit den Idealen des Feminismus?

Die Emanzipation der Frauen ist immer noch etwas vergleichsweise Neues. Die meisten sehnen sich immer noch danach, dass Frauen gute, dass sie bessere Menschen sind. Was auch immer eine Frau tut, ob in der Realität oder in der Fiktion, betrachten wir durch eine politische oder moralische Brille. Karin ist die Tochter einer Feministin – und sie ist eine Person mit vielen Privilegien, die sie allerdings aufgegeben hat, als sie ihr Mittelklasse-Leben hinter sich ließ, um mit diesem Mann, diesem „bösen“ Mann zu leben. Sie hat sich für ein Leben in dieser Welt entschieden, in der sie komplett abhängig von ihm ist. Das hat, wie vielleicht auch anderes an ihr, Reaktionen hervorgerufen. Aus meiner Sicht bewegt sie sich innerhalb der Grenzen der Freiheit, die Frauen unserer Generation haben, was auch das Recht einschließt, diese Freiheit nicht zu nutzen, nicht in Ehren zu halten, wofür unsere Mütter unseretwegen gekämpft haben, sondern sich vielmehr zu unterwerfen.

Wie spiegeln die Weigerung von Karins früherer „Familie“, ihr zu helfen, und Karins Unfähigkeit, ihrem eigenen Kind zu helfen, das übergeordnete Versagen von Gemeinschaften (wie auch Staaten und Ländern) wider, die Individuen in ihrem Inneren zu schützen?

Ich würde nicht sagen, dass sie unfähig ist, ihrem Kind zu helfen, aber ich weiß, dass es von einigen so interpretiert worden ist. Ich bin stark geprägt vom Konzept der Unabhängigkeit, und ich wollte mich der Not, Unterwerfung und Abhängigkeit widmen. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, tauchten im malerischen alternativen Bezirk, in dem ich lebe, EU-Migranten auf, die auf der Straße um Geld bettelten. Die europäische Flüchtlingskrise eskalierte, und ich beschäftigte mich mit Gedanken über Grenzen, Schwäche und Anfälligkeit. Ich sah diesen Unterschied zwischen dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, nach Hilfe zu suchen, und den vorherrschenden individualistischen Idealen (in Schweden ist das auf gewisse Weise vertieft durch den Wohlfahrtsstaat und die Vorstellung, dass die wichtigste Anlaufstelle für den Einzelnen eher die Regierung als eine andere Person ist).

Was auch immer eine Frau tut, ob in der Realität oder in der Fiktion, betrachten wir durch eine politische oder moralische Brille.

Ich kam nicht los von der Besessenheit unserer Gesellschaft mit Stärke und Erfolg, ein gewisser Zeitgeist, dem ich mich selbst als Schriftstellerin nicht entziehen konnte, selbst als jemand, der sich mit Zweifeln und Schmerzen auseinandersetzt. Indem ich über menschliche Bedürfnisse statt über menschliche Begierden schrieb, über Obdachlosigkeit und Hilflosigkeit, entwickelte sich „Die weiße Stadt“ zu einer Zuflucht. Karins Lage ist das Ergebnis von Entscheidungen, die sie getroffen hat, sie kämpft mit Schuld und Scham, und ich wollte unsere Grenzen der Empathie erkunden und sehen, ob wir ihr gegenüber in dieser Situation Mitgefühl empfinden können, obwohl wir wissen, wer sie ist und wie sie da hineingeraten konnte. Ich wollte fühlen, was sie fühlte, und ich wollte, dass der Leser das auch fühlt, das Stillen ebenso wie das Ausgeschlossensein.

 

Dieses Interview erschien im englischen Original bei Grove Atlantic.


Das BuchVS_9783550081330-Ramquist-Die-weisse-Stadt_U1.indd

Das große Haus steht einsam und kalt an einem See, umgeben von Schnee und Frost. Die kugelsicheren Fenster sind voller Eisblumen. Drinnen sitzt Karin auf einem verdreckten Sofa. Das Telefon ist abgestellt. Die Heizung funktioniert nicht mehr. Karin hat sich verändert. Früher war sie die Gangsterkönigin und Johns höchste Errungenschaft. Alle haben sie bewundert. Jetzt ist John tot, und sie hat eine Tochter, die sie buchstäblich aussaugt und völlig auf sie angewiesen ist.

 

Links 

„Die weiße Stadt“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage 

Karolina Ramqvist auf Twitter – bei Facebook – und auf Instagram 

 

Karolina Ramqvist

Karolina Ramqvist

Karolina Ramqvist wurde 1976 geboren. Sie ist eine der einflussreichsten feministischen Autorinnen ihrer Generation in Schweden und wurde jüngst mit dem Per-Olov-Enquist-Preis ausgezeichnet. In all ihren Büchern beschäftigt sie sich mit verschiedenen Aspekten gesellschaftlichen Lebens wie Konsum, Einsamkeit und Rollenmodelle. Sie lebt in Stockholm.

Foto: © Jasmine Storch

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