Auf ihrem Twitteraccount so sad today berichtet Melissa Broder einer halben Million Followern von ihrer Angststörung. In ihrem Debütroman „Fische“ erzählt sie die Geschichte einer Frau, die unter Co-Abhängigkeit leidet. In beiden Fällen brilliert die Autorin mit ihrer humorvollen Art, über gesellschaftliche Tabuthemen zu sprechen. Was das Ganze mit der Liebe zu einem Meermann zu tun hat und warum das Geschlecht keine binäre Angelegenheit ist, verrät Broder uns im Interview.

© Garry Askew
Wie bist du auf deine Hauptfigur Lucy gekommen?
Lucy bin ich und dann wieder nicht ich, sie ist das Produkt der Magie, die stattfindet, wenn eine Schriftstellerin in sich selbst hinein- und in die Welt hinausblickt. Ihr Knochengerüst setzt sich zusammen aus meinen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen – und darüber hinaus aus: der Wüste von Arizona, meiner High-School-Bibliothekarin Miss Lucia, dem Elena-Ferrante-Buch „Die Geschichte des verlorenen Kindes“, Sappho und natürlich Theo, dem Meermann. In gewisser Weise entstand Lucy in mir, als Theo in mir entstand. Das war vor etwa drei Jahren an einem Strand in Venice.
Wie würdest du ihr Gefühl der inneren Leere beschreiben?
Der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir am Leben sind, ist der, dass wir geboren werden und nicht wissen, warum wir hier sind oder was das alles soll, obwohl manche Leute seltsamerweise behaupten, das nicht zu bemerken. Es ist das spirituelle Loch, das in unserem Inneren existiert und das wir mit äußeren Dingen zu stopfen versuchen: Drogen, Alkohol, Sex, Liebe, Anerkennung, Erfolg, ein schickes Paar Schuhe. Ich habe versucht, meines mit ganz viel Glitzer zu füllen, nur um immer wieder festzustellen, dass die Lösung im Inneren liegt. Aber da ich natürlich auch nur ein Mensch bin, werde ich es wohl dennoch immer wieder versuchen.
Für mich ist Lucy eine sehr moderne Figur, die sich nicht an Geschlechterstereotype hält (sie hat keine Kinder, ist mit 39 Jahren nicht verheiratet …), andererseits fühlt sie sich Sappho verbunden. Welche Rolle spielt die griechische Mythologie in Lucys Leben?
Wäre Lucy eine Maschinenbaustudentin oder Bankmanagerin, wäre es wohl weniger wahrscheinlich, dass sie einen Meermann sehen kann. Aber sie schreibt seit Jahren an einer Dissertation über Sappho. Sie ist von diesem Stoff durchdrungen. Und deshalb kann sie ihn sehen. In ihrer Welt sind mythische Figuren lebende, atmende Wesen. Hinzu kommt, dass die Technologie sich verändern mag, aber nicht das menschliche Empfinden. Die spirituelle und romantische Sehnsucht, die Sappho in ihrem Werk ausdrückt, ist dieselbe Sehnsucht, die Lucy heute verspürt.
Lucy erlebt ihr Coming of Age mit fast 40 Jahren. Hast Du das Gefühl, dass die Menschen heutzutage keine rote Linie mehr im Leben sehen und deshalb mehr Zeit brauchen, um herauszufinden, wer sie sind und was sie wollen?
Ich bin ein nach innen gerichteter Mensch, deshalb fällt es mir schwer, soziologische Einschätzungen abzugeben. Aber für mich selbst gibt es keine rote Linie. Der Weg ist eine Spirale.
Lucy sucht nach Orientierung, indem sie zu „den Göttern betet, an die sie nicht glaubt“. Sie durchforstet ihr Horoskop nach Hinweisen auf ihre Zukunft oder kauft Kerzen, um Selbstliebe zu üben. Warum versucht sie so sehr, an höhere Mächte zu glauben? Und warum ist sie nicht in der Lage, sich auf sich selbst zu konzentrieren?
Wer sucht nicht nach einer höheren Macht? Wer will sich nicht selbst entkommen oder versuchen, dem Universum eine Ordnung aufzuerlegen? Wir geben so vielen Dingen die Macht über uns: Geld, Erfolg, Prominente, die Wünsche und Träume, die unsere Eltern für uns hegen, Rauschmittel, märchenhafte Vorstellungen von Liebe und andere Freuden des Egos. Lucy ahnt, dass die Wünsche ihres Egos ihr bis dato keinen dauerhaften Seelenfrieden beschert haben. Also ist sie weiterhin auf der Suche.
Wie haben wir uns deine Recherche vorzustellen? Hast Du an einer Gruppentherapie für co-abhängige Frauen teilgenommen wie die Hydra der Verzweiflung in deinem Roman?
Sagen wir einfach, dass ich auf unterschiedliche Art und Weise sehr viel an mir selbst gearbeitet habe.
Obwohl Lucy sich von den Typen angewidert fühlt, die sie über Tinder datet, kann sie nicht aufhören, sie zu sehen, und hofft auf ihre Aufmerksamkeit. Warum fühlt sie sich ohne Partner so unvollständig?
Ich denke, dass es bei Lucys Verhältnis zu Tinder weniger um ihren Wunsch nach einem gleichberechtigten Partner geht als um die berauschende Wirkung der Erwartung, Fantasie und Lust. Wenn sie sich wirklich regelmäßig mit einer ihrer Tinder-Eroberungen treffen würde, würde sie das sofort abstoßen. Das wäre echte Intimität, und es ist viel schwieriger, eine langfristige Beziehung in eine Droge zu verwandeln. Stattdessen kehrt Lucy immer wieder zur Quelle zurück, denn trotz der Enttäuschung, die jede einzelne Erfahrung mit sich bringt, ist das Potential der nächsten Eroberung – die nächste Gelegenheit für Aufmerksamkeit und Bestätigung – ein weiterer Rausch.
Lucy vergleicht sich mit einer Frau auf der Straße, die die perfekte „Bitch Attitude“ zu haben scheint, da sie sich nicht darum schert, was andere Leute (Männer) über sie denken. Was meinst du dazu? Sollten wir alle etwas bitchiger sein?
In dieser Szene vergleicht Lucy das, was sie im Inneren fühlt, mit dem Äußeren einer anderen Frau. Wer weiß schon, ob diese Frau wirklich bitchig ist? Aber in diesem Moment scheint die Frau im Einklang mit sich selbst zu sein, besonders im Vergleich zu der Art, wie Lucy sich innerlich fühlt: unsicher, durcheinander, ängstlich.
Bis zu dem Punkt, an dem Lucy Theo begegnet, ist der Roman ziemlich fest auf dem Boden der Realität verankert. Woher kam die Idee des Meermanns?
Nachdem ich „So Sad Today“ fertiggeschrieben hatte, wollte ich weiterhin die Schnittstelle zwischen Liebe und Verliebtheit und das Thema der Liebe als Droge erforschen. Ich war in Venice am Strand und las ein wunderschönes Buch mit dem Titel „Die Sirene“ über einen Mann, der eine Meerjungfrau liebt, und mir wurde klar, dass nichts diese Schnittpunkte so gut verkörpert wie die Beziehung zwischen Mensch und Meerjungfrau. Ich begann darüber nachzudenken, wie viele Männer in der Literatur ins Meer gegangen und aus lauter Verliebtheit ertrunken sind. Aber warum könnte es nicht eine Frau und ein Meermann sein? Und was wäre, wenn das heute passieren würde?
Wie würdest du Theo beschreiben? Welche Rolle spielt er in Lucys Leben? Ich nehme an, es ist kein Zufall, dass sie ihn trifft, als sie an ihrem absoluten Tiefpunkt angelangt ist …
Ich bin gefragt worden, ob Theo real ist oder nicht, und ich sage, er ist so real wie jeder, von dem wir je besessen gewesen sind. Wie deutlich erkennen wir die Menschen, die wir lieben? Bei Fantasien geht es immer weniger um das Objekt als um die Person, die die Fantasie hat. Die Fantasie erfüllt ein Bedürfnis in uns. Also erscheint Theo, als Lucy ihn braucht.
In deinem Roman und auf deinem Twitter-Account ‚so sad today‚ gelingt es dir, auf sehr unterhaltsame Weise über ernste Themen wie Depressionen zu sprechen. Hilft Sarkasmus beim Umgang mit Gefühlen, von denen normalerweise niemand spricht (besonders in den sozialen Netzwerken)?
Unbedingt. Ich habe schon immer schwarzen Humor als Bewältigungsstrategie genutzt. Ich bin dankbar für die Fähigkeit, den Schrecken, das Verhängnis und die Ohnmacht von psychischen Erkrankungen in eine Erzählung zu verwandeln, die ich beeinflussen und über die ich lachen kann.
Welche Vorteile hat ein Roman im Vergleich zu Essays oder Social Media? Worin liegen die Nachteile?
Als Dichterin habe ich nie verstanden, wie man so viele Worte brauchen kann. Warum sollte man auf 200 Seiten ausdrücken, wofür zwei Seiten reichen? Ich hätte nie gedacht, dass ich einen Roman schreiben würde. Ich hätte nie auch nur daran gedacht, dass ich Prosa schreiben würde. Als ich in New York lebte, schrieb ich Gedichte in der U-Bahn, aber als ich nach LA zog, begann ich in meinem Auto zu diktieren. Die Zeilenumbrüche verschwanden, und die Sprache wurde wortreicher. So entstanden „So Sad Today“ und „Fische“. Ich habe die ersten Entwürfe zu beiden diktiert. Die Landschaft schrieb sich buchstäblich in den Text ein. Ich hatte es nicht wirklich unter Kontrolle!
Als Lucy darüber sinniert, was sie dabei empfindet, eine Zukunft mit endlosen Möglichkeiten zu verlieren, kommt sie zu dem Schluss, dass es Vorteile haben könnte, ein Mann zu sein. Warum fühlt sie sich als Frau so eingeschränkt? Ist es eine physische Sache oder ist es die Gesellschaft, die bestimmte Regeln festlegt?
Ich würde sagen, es ist beides. Aber es wurzelt definitiv im Physischen. Aus biologischer Sicht hat sie das Gefühl, dass ihr die Zeit davonläuft, um ein Kind zu bekommen. Obwohl sie eigentlich kein Kind haben will, will sie die Wahl haben, immer darüber entscheiden zu können. Aus gesellschaftlicher Sicht verbindet sie Weiblichkeit mit einer besonders unangemessenen Bedürftigkeit. Sie will keine Bedürfnisse haben, aus Angst, dass diese Bedürfnisse abgelehnt werden.
Letztendlich glaube ich nicht, dass Lucy das Geschlecht als völlig binäre Angelegenheit ansieht. Wir sehen das, als sie sich selbst und Theo als geschlechtslose Zwillinge wahrnimmt, die sich eine Gebärmutter teilen. Aber sie wünscht sich trotz allem einen Penis zu haben.
Vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Marie Krutmann.
Das Buch
Im Grunde wollte Lucy ihren Freund Jamie nie heiraten oder Kinder mit ihm, doch dann versetzt sie ihre dramatische Trennung unerwartet in eine emotionale Totalkrise. Mit achtunddreißig Jahren steht sie vor dem Abgrund: Sie dröhnt sich zu, sucht Hellseherinnen auf und droht schlichtweg zu verzweifeln. Rettung scheint in greifbarer Nähe, als sie Phoenix verlässt und in Venice Beach das Haus ihrer Schwester samt Hund hütet. Doch weder der Besuch der hiesigen Liebes- und Sextherapiegruppe für beziehungsgestörte Frauen noch Tinder-Abenteuer können Lucy aus ihrem Wahn befreien. Alles ändert sich, als Lucy sich eines Abends am Strand in den wunderschönen Schwimmer Theo verliebt. Da erscheinen auch die Leerstellen in Sapphos Werk, über das sie seit neun Jahren versucht eine Dissertation zu verfassen, in einem ganz neuen Licht. Doch als Lucy die Wahrheit über Theos Identität erfährt, muss sie sich einige Fragen noch einmal stellen: Was bedeutet es zu lieben? Wie weit können wir gehen, um ewige Liebe zu erfahren und wann geben wir uns selbst auf?
„Fische“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage