„In einer Welt des Appetits sind alle vereint.“

„In meiner Familie war Essen die Sprache, die wir nutzten, um Geschichten zu erzählen, Liebe zu geben und unsere Leidenschaften und Werte zu teilen.“ Im ersten Teil ihrer dreiteiligen Essay-Kolumne erzählt uns Donia Bijan von ihrem kulinarischen Werdegang. Dies ist der zweite Teil, in dem sie beschreibt, wie sie anhand einer geerbten Rezeptesammlung die Exilerfahrung ihrer Mutter nachvollzieht, die ihre Heimat, den Iran, für eine Zukunft in Amerika verlassen musste.

(C) MITCHELL JOHNSON

 

Meine Mutter formulierte ihre Rezepte aus, indem sie die Zutaten um eigene Ausdrucksweisen ergänzte, die ein wohliges Gefühl erzeugen und alles so mühelos wie die Zubereitung eines gekochten Eies erscheinen lassen: „Gib einfach eine Handvoll Zucker in einen Topf mit Kirschen und koche sie so lange, bis sie sich nicht mehr an der Oberfläche blicken lassen.“ Diese Kirschen wurden später unter Safranreis mit Mandelsplittern und Orangenschalen gehoben, aber das spielte erst mal überhaupt keine Rolle, die Kirschen sind klein sind, und es braucht eine Weile, sie von ihren Kernen zu befreien – eine Aufgabe, die man am besten bei einer gemeinsamen Tasse Tee erledigt. Ich habe mir also die persische Küche erschlossen, indem ich lernte, dass eine Handvoll eine halbe Tasse oder mehr heißen konnte, dass nur faule Köche sich nicht die Mühe machen, Steinobst vor dem Kochen zu entkernen, und dass Geduld eine wesentliche Zutat aller Gerichte ist.

Essen erlaubt uns, an etwas Sinnlichem festzuhalten, das nicht nur Nahrung, sondern auch Sicherheit, Würde und Liebe bedeutet.

Es hätte mich damals also nicht überrascht, wenn ich eine ganze Schublade voller ausformulierter Rezepte auf Papierfetzen gefunden hätte, die von Kontoauszügen oder Notizblöcken stammten – manche auf Farsi, andere auf Englisch, und eher wie gute Ratschläge denn als Formeln geschrieben. An diesem Nachmittag, nur wenige Tage nach ihrem Tod, sah ich mich gezwungen, ihre Küche aufzulösen, Reihen von Kisten wie kleine Särge aufzustellen und sie mit Tassen und Tellern zu füllen. Womit ich allerdings nicht rechnete, als ich eine der Schubladen aufzog, war, ein Dutzend Variationen von Thunfischauflauf, Macaroni and Cheese und Bananenbrot zu finden – eine Reihe amerikanischer Gerichte, in deren Beherrschung sie offensichtlich viel Mühe gesteckt hatte. Ich habe alle Rezepte in einen Umschlag gepackt, eine Schnur darum gebunden und sie nach Hause gebracht. Ein ganzes Jahr lang standen sie in meinem Bücherregal, bis ich es über mich brachte, sie mir noch einmal anzusehen. Jeden Tag hatte ich an sie gedacht und wie bei einem Rechenweg, den man zurückverfolgt, zu verstehen versucht, wie es dazu hatte kommen können. Meine Mutter, eine in der persischen Küche bewanderte Frau, machte sich Notizen über die vielfältigen Möglichkeiten, Krautsalat zuzubereiten. Da gab es Jennys Variante mit geriebenen Äpfeln und eine Restaurantversion mit körnigem Senf. Bei Pats Haferflocken-Rosinen-Plätzchen hatte sie sich über den Versuch ihrer Nachbarin, genaue Einheiten anzugeben, hinweggesetzt und stattdessen lose Anweisungen festgehalten, um sich selbst genügend Raum für Fehler zu lassen. Ich glaube, das war ihre Art, das Rezept zu ihrem eigenen zu machen. Diese wahllos im Laufe der 25 Jahre seit ihrer Einwanderung nach Amerika 1980 zusammengetragenen handschriftlichen Rezepte waren ein Zeugnis ihrer eifrigen Bemühungen, sich zu assimilieren, ihr Repertoire zu erweitern und sich die amerikanische Küche beizubringen.

Ich musste schon bald einsehen, dass die einzige Geschichte, die ich anstelle eines anekdotenhaften Berichts über ihr Leben schreiben konnte, meine eigene Geschichte war.

Bei meinem Versuch, zu verstehen, was in Hinterbliebenen vorgeht und wie man mit dem Verlust fertig wird, war mein erster Gedanke, einfach die Geschichte meiner Eltern niederzuschreiben – ein Arzt und eine Krankenschwester, die der Hinrichtung entkamen und in Amerika Zuflucht suchten. Ich musste schon bald einsehen, dass die einzige Geschichte, die ich anstelle eines anekdotenhaften Berichts über ihr Leben schreiben konnte, meine eigene Geschichte war: meine Erfahrung als ihre Tochter, meine Entwicklung zur Irano-Amerikanerin und meine Rolle als Bindeglied zwischen zwei Kulturen, die ich innerhalb der Familie spielte. Ein hartnäckiges Gefühl machte sich in mir breit, dass ich die Beharrlichkeit meiner Mutter nicht ausreichend gewürdigt hatte, ihren Willen, sich ein neues Leben in einem fremden Land aufzubauen, ihren Kindern ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln, Freundschaften zu pflegen und eine Liebe zu ihrer Wahlheimat zu entwickeln. Man sagt, dass Hinterbliebene nach Botschaften suchen. Ich nahm ihre Rezeptsammlung als Ansporn, ihre Exilerfahrung zu verstehen, indem ich den Weg nachverfolgte, den wir nach unserem Aufbruch nach Amerika zurückgelegt hatten, während ich gleichzeitig einen Blick über meine Schulter auf das warf, was wir zurückgelassen hatten.

In meiner Familie war Essen die Sprache, die wir nutzten, um Geschichten zu erzählen, Liebe zu geben und unsere Leidenschaften und Werte zu teilen. Mich fasziniert die Tatsache, dass ein Land von Fundamentalismus und Krieg heimgesucht werden kann, dass seine Bürger wie Glassplitter über den ganzen Globus verstreut sein können und seine Küche dennoch intakt bleibt. Essen erlaubt uns, an etwas Sinnlichem festzuhalten, das nicht nur Nahrung, sondern auch Sicherheit, Würde und Liebe bedeutet. Beim Schreiben meines Buches bin ich der Sehnsucht nach Behaglichkeit und Trost gefolgt, aber auch der nach der inneren Welt, die alle Einwanderer bewohnen. Meine Mutter suchte zwischen den Kulturen nach einem Sinn, um zu verstehen, wie wir in einer Welt des Appetits alle vereint sind. Sie schrieb Rezepte wie Geschichten, weil sie wusste, dass nicht die Anweisungen zwingend sind, sondern der Hunger.

 

Hier geht es zu Teil 1 der Essay-Kolumne von Donia Bijan.


Das Buch

Teheran im Frühling: Jeden Tag wartet der alte Zod im Glyzinienhof vor dem Café Leila auf den Postboten. Bringt er einen Brief von seiner geliebten Tochter Noor? Endlich hat sie geschrieben. Nach 30 Jahren wird sie aus den USA in ihre verlorene Heimat zurückkehren. In die Stadt der Widersprüche, in der Schönheit und Gewalt nebeneinander existieren. In das Café Leila, in dem Noors Mutter früher alles zauberte, was die persische Küche an himmlischen Köstlichkeiten hergab. Zu ihrer Familie, die trotz aller Wärme und Liebe zerrissen wurde. Eine berührende Geschichte über eine persische Familie, die endlich wieder zusammenfindet.

 

„Als die Tage nach Zimt schmeckten“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

 

Donia Bijan

Donia Bijan

Donia Bijan lebt in San Francisco und arbeitet als Köchin und Autorin. Sie studierte an der UC Berkeley und leitet seit zehn Jahren ihr eigenes Restaurant.

Foto: © Zach Heffner

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