Anne Vogd: „Mein Leben war zwar voll, aber nicht reich.“

Lange dachte Anne Vogd, dass ihr Selbstwertgefühl von beruflichem Erfolg abhinge, bis sie nach 25 Jahren ihren Job als Vertrieblerin aufgab, um Kabarettistin zu werden. Hier erzählt sie, wieso ihr Neuanfang mit 51 Jahren die beste Entscheidung ihres Lebens war. 

Anne Vogd. Foto (c) Stephanie Schweigert

 

Ich gehörte zu den 18 Prozent aller Deutschen, die laut Statistik regelmäßig an ihre Leistungsgrenzen stoßen. 

Das Leben ist kein Wunschkonzert, aber manchmal gibt es einen Moment, da spielt es Dein Lieblingslied. Für mich kam dieser Moment im April 2016. Als ich ihn spürte, wollte ich sofort mitsingen. Hier und jetzt – und nicht erst, wenn die Hölle zufriert.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich über 25 Jahre in der Textilindustrie hinter mir. Ich habe meinen Job immer geliebt. Er passte zu mir. Herausforderungen? Kein Ding für mich. Nichts ist unmöglich, außer eine Drehtür zuzuschlagen. Und ehrgeizig war ich auch. Das Hamsterrad, in dem ich jahrelang lief, sah von innen ja auch zunächst einmal aus wie eine nicht enden wollende Karriereleiter.

Würde ich heute von einem Personaler gefragt, wie viele Jahre Berufserfahrung ich in dieser Branche gesammelt hätte, ich würde antworten ‚Siebzig‘. Dann würde der Mann beginnen, hektisch in seinen Unterlagen zu blättern und nach wenigen Sekunden irritiert fragen ‚Aber Sie sind doch erst 53‘, worauf ich ihm dann erklären müsste: ‚Ja, das stimmt, aber die 70 kommen von den geleisteten Überstunden‘.

Mütter, diese Wahnsinnsweiber

Die Überstunden machte ich viele Jahre gerne, denn ich habe mein Selbstwertgefühl lange an beruflichen Erfolgen festgemacht. Selbst dann noch, als ich Babywindeln und Businessoutfit, Kita-Öffnungszeiten und Karrieredenken, Mode und Mittagessen unter einen Hut bringen sollte. Ich war zur Working Mom geworden und es dauerte nicht lange, da ich fühlte wie eine olympische Siebenkämpferin, die in der Leichtathletik um Goldmedaillen kämpft. Meine Disziplinen hießen nur anders, und geklatscht hat am Ende auch niemand. Aber das erwartet so eine Wonder Woman auch gar nicht. Ich habe das früher nie so gesehen, aber arbeitenden Müttern gebührt allerhöchster Respekt. Working Moms sind der Thermomix unter den Frauen.

Überholspur oder Rush Hour… 

Familie, Firma, Freunde, Fitness, Fortbildung – mein Leben war zwar voll, aber nicht reich. Es dauerte nicht lange und ich war überlastet vom Terror des Möglichen und vom Druck zu beweisen, alles zu können. Ständig war man im Kampfmodus. Im Büro und zu Hause entstand ein Reizklima, wie ich es später nur noch bei Kita-Elternabenden vorfand, wenn engagierte Mütter bis weit nach 22 Uhr über die Frage stritten, ob für Dreijährige nun eine Stunde Englisch pro Woche oder anderthalb dem Anspruch einer bilingualen Einrichtung gerecht werden. Ich gehörte fortan zu den 18 Prozent aller Deutschen, die laut Statistik regelmäßig an ihre Leistungsgrenzen stoßen. Nur mit dem Unterschied, dass ich, von Natur aus neugierig, immer sehen wollte, wie es dahinter aussah. Ich war irgendwann die Krone der (Er)Schöpfung. So weit, so schlimm, mag man denken, aber dieser Zustand war wichtig für mich. Denn mein eigentlicher Neustart, begann genau hier. Er begann damit, Altbekanntes in Frage zu stellen und über neue Wege nachzudenken.

Alles auf Reset

Der Moment, in dem sich mein Leben dann tatsächlich um 180 Grad drehen sollte, folgte erst Monate später und wie so vieles im Leben, völlig unerwartet. Aber der Zufall geht nun mal Wege, da kommt die Absicht nie hin.

Das Schicksal meinte es gut mit mir als ich im Frühjahr 2016 von einer Bekannten vom SWR3 Comedy Förderpreis erfuhr. Sie traute mir das zu, weil sie mich mehrfach im Karneval als Redner erlebt hatte. Als gebürtige Rheinländerin pflege ich ein ganz besonderes Verhältnis zu dieser saisonalen Ekstase. Aber auch über die 5. Jahreszeit hinaus, machte ich schon immer Gebrauch von dem Bespaßungs-Gen , das mir offensichtlich mit in die Wiege gelegt worden war und mich zuverlässig auf Firmenfeiern oder Geburtstagspartys reflexartig übermannte. Ich hatte Glück. Mit einer Rede über das Muttersein erhielt ich den Preis im April 2016. Ab dann lag Aufbruchstimmung in der Luft. Ich tauschte das Büro gegen die Bühne, ich schrieb für diverse Tageszeitungen und Onlinemagazine, ich war regelmäßig im Radio mit meiner kleinen Serie ‚Volle Kanne Anne‘ zu hören und ich durfte zu guter Letzt sogar noch ein Buch schreiben. Ich lebte ein völlig neues Leben.

Als ich damals auf diese Spur wechselte, war ich 51 Jahre alt. 1991 hatte ich in der Modebranche begonnen. 2016, also 25 Jahre und zwei Hörstürze später, verließ ich sie wieder und tat endlich das, wofür ich mittlerweile ‚brannte‘. Neugierde, Freude an etwas Neuem und Risikobereitschaft waren meine Triebfedern. Kein Tag verlief wie der andere. Das Wort ‚Wechseljahre‘ bekam für mich eine ganz neue Bedeutung.

Es gab einige Skeptiker in meinem Umfeld, die mit Unverständnis auf meine Entscheidung reagiert haben. Einen sicheren Job mit solidem Einkommen für eine unsichere Künstlerexistenz aufzugeben, ist ja auch ein gewagter Schritt. Meine innere Stimme sagte mir jedoch, dass das genau der richtige Weg sei, dass es immer besser sei, ein Leben zu führen, das sich für einen selber gut anfühlt, als eines zu führen, das nur nach außen gut aussieht. Ich ging ihn. Meine Kritiker waren irgendwann nicht mehr wichtig für mich und die, die wichtig für mich waren, kritisierten mich nicht für meine Entscheidung, sondern machten mir Mut.

Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 4000 Euro ein….

Und den brauchte ich auch. Gerade im ersten Jahr verlief manch ein Auftritt von mir nach dem Prinzip ‚Veni, vidi, violini‘ – ich kam, sah und vergeigte. Aber Misserfolge gehören genauso dazu wie Erfolge. Das Leben gibt es nur ‚all inclusive‘. Wichtig ist, dass man Rückschläge nie persönlich nimmt. Am Ende zählt nämlich nicht, ob man immer gewinnt, sondern ob man mit seinen Niederlagen umgehen kann. Ich lernte aus manch redaktionellem Verriss über einen Auftritt mehr, als aus manch gut gemeinter Lobeshymne.  Vermutlich habe ich das meiner rheinischen Mentalität zu verdanken. Wenn der Rheinländer einen ‚Schritt zurück‘ macht, dann tut er das, um Anlauf zu nehmen. Wir sind Optimisten durch und durch. Mein Mann ist Sauerländer und völlig anders gestrickt. Während ich schnell Licht am Ende des Tunnels sehe, verlängert er auch gerne mal den Tunnel. Ich denke dann immer, man könnte doch im Leben prinzipiell auch einfach mal dankbar für all die Probleme sein, die einem bisher erspart geblieben sind, oder?

Be yourself, everyone else is already taken (Oskar Wilde)

Genauso wichtig wie der entspannte Umgang mit Niederlagen ist der Glaube an sich selbst. Gerade wenn man auf der Bühne steht, ist Authentizität wichtig. Alles andere führt zu nichts. Ich sage immer: Sei wie Du bist, es kommt sowieso raus.  Und vertraue auf das, was Du tust, denn Du hast Talent. Jeder Mensch hat Talente. Diese zu nutzen, ist wichtig, egal wie groß oder klein man sie selber einschätzt. Unsere Wälder wären sehr still, wenn nur die begabtesten Vögel singen würden.

Man muss wirklich nicht immer der Beste in irgendetwas sein. Amateure haben die Arche gebaut, Profis die Titanic. Perfektion ist nicht die Zugangsvoraussetzung für ein glückliches, erfülltes Leben, denn Perfektion liegt oft im Detail und nie im Ganzen.  Ich begegne dem Hang, perfekt sein zu wollen mittlerweile mit leidenschaftlich gepflegtem Desinteresse. Perfekt erscheinende Menschen langweilen mich. Ich finde Menschen mit Makel viel menschlicher. Ich habe davon besonders viele – und war nie glücklicher als heute.

‚Glücklich sein‘ ist ein bewusster Entschluss. Es bedeutet mehr, als nur ‚nicht unglücklich sein‘. Wer glücklich sein will, braucht Mut. Mut, alte Pfade zu verlassen und über neue Brücken zu gehen. Ich habe meinem Effektivleben, mit all seinen irrwitzigen Ausprägungen aus tiefster Überzeugung Adé gesagt und gleichzeitig mein Hobby zum Beruf gemacht – und zwar zu einem, von dem ich mich im Urlaub nicht erholen muss. Für diese Chance bin ich sehr dankbar.

Ich rate jedem, der, ähnlich wie ich, an einer Kreuzung in seinem Leben steht: Folgen Sie dem Wegweiser, auf dem steht: Machen! Einfach machen! Lieber etwas riskieren, als immer zu bereuen, es nicht versucht zu haben. Das Leben ist endlich. Mit 20 denkt man noch nicht so, mit 50 weiß man es einfach.

Wir leben in einer Zeit, in der Lebensläufe glücklicherweise bunter ausfallen dürfen. Es ist heutzutage nie zu spät auf die richtige Spur zu wechseln. Warum auch? Wir haben in all den Jahren wertvolle Lebenserfahrung gesammelt, die sich für zukünftige Ziele nutzen lässt.

Und wenn man dann doch mal zweifelt, hilft der sogenannte Schulterblick, den man schon in der Fahrschule lernt, denn der führt einem vor Augen, wie weit man mit sich selbst schon gekommen seid. Aber bitte nicht zu lange zurückblicken, auch wenn er viel Erlebtes bietet, das zum ausgiebigen Verweilen einlädt. Schauen Sie nach vorn, wir werden immer älter und es sind ganz wunderbare Jahre, die da noch vor uns liegen. Seien Sie lieber der Architekt Ihrer Zukunft, als der Denkmalspfleger Ihrer Vergangenheit. Neustart ist nämlich keine Frage des biologischen Alters mehr, sondern des perfekten Timings!


Das Buch

Man kann am täglichen Spagat zwischen perfekt und defekt verzweifeln – oder ihm mit Selbstironie und Gelassenheit begegnen. Anne Vogd hat sich für Letzteres entschieden. Nach dem Motto »Vernünftig, das ist wie tot, nur früher« bekämpft sie die kleinen und großen Krisen des Alltags mit einer guten Portion Humor, Gelassenheit und Improvisationstalent. Denn wer immer scheitert, ist auch zuverlässig.

 

„Ich hab’s auch nicht immer leicht mit mir“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

 

 

Anne Vogd

Anne Vogd

Anne Vogd, * 1965, arbeitete 25 Jahre lang als Vertrieblerin und Pressereferentin, bevor sie mit 51 Jahren etwas ganz Neues wagte – und Kabarettistin wurde. Sie gewann den SWR3 Comedy Förderpreis und steht heute auf den Bühnen Deutschlands. Auf SWR 3 ist die gebürtige Rheinländerin regelmäßig mit ihrer Serie „Volle Kanne – Anne’“ zu hören und schreibt Kolumnen für diverse Zeitungen. Anne Vogd lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Rheinland-Pfalz.

Foto: © Stephanie Schweigert

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