Eine Welle aus Unverständnis und Entsetzen schwappt von der Ukraine nach Europa über. Ich tauche kopfüber in sie ein. Wie können zwei Völker, die wie Brüder waren, sich so bekriegen?
Kopfschüttelnd verfolge ich die Geschehnisse in der Ukraine. Es ist unfassbar, wie Russland die Demonstrationen auf dem Maidan nutzt, um sich die Krim unter den Nagel zu reißen, um den Konflikt in Donezk und Lugansk zu entfachen. Unfassbar, und doch kommt es mir so bekannt vor.
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Mit dem Mikro auf dem Riesenrad in Senaki (© Alexandra Friedmann)
„Was ist da los bei euch in Georgien?“ frage ich meine Freundin Tea. Es ist August 2008, wir haben Semesterferien und sitzen auf einer Terrasse in Paris mit Blick auf die Seine. Tea lässt die Schultern hängen, sieht mich bestürzt an. „Russland ist in Nordossetien einmarschiert. Sie wollen uns ein Stück Land wegnehmen. Dabei geht es doch nur darum, dem Westen ihre Macht zu demonstrieren!“
Genau ein Jahr später sitzen Tea und ich in einem Flugzeug, das uns von Paris nach Tiflis bringen soll. Wir haben alles über den Konflikt in Georgien gelesen. Wir wissen, dass Putin die proamerikanische Haltung des georgischen Präsidenten Saakaschwili missfiel, und dass Russland begonnen hat, in Nordossetien russische Pässe wie Bonbons zu verteilen. Dass es dann Provokationen an der Grenze gab, bis Saakaschwili zuerst das Feuer eröffnete. Und dann der Einmarsch Russlands unter dem Vorwand, seine Friedenstruppen und seine Staatsbürger zu schützen. Jetzt wollen wir mit der Kamera durchs Land reisen, wir wollen mit den Menschen sprechen, erfahren, was sie über den Konflikt denken.
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Von Ludmila, einer Freundin der Familie aus Kiew, erfahre ich im Dezember 2013 per E-mail, wie sie die Geschehnisse in der Ukraine erlebte:
„Alles verlief friedlich. Die Studenten kündigten ihre letzte Nacht auf dem Maidan an. Trotzdem rückten um 4 Uhr morgens die „Gesetzeshüter“ an, gingen mit Knüppeln auf die jungen Leute los. Die Brutalitäten wurden live im Fernsehen übertragen – man fragt sich, warum. Nun strömte die ganze Stadt zum Maidan, die Taxen fuhren umsonst, am nächsten Tag waren es 500.000 Menschen.
Die friedliche Demonstration wurde aufgemischt, es gab Schlägereien, Entführungen, Folter. Ein Student wurde erschossen. Die Stadt trauerte, die Menschen wurden wütend. Extremistische Kleingruppierungen mischten sich unter die Demonstranten. Es gab weitere Tote, Jungs von 20, 25 Jahren – von Heckenschützen erschossen. Es wurde alles getan, um die Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen. Die reinste Provokation.
Als eine Säuberungsaktion angekündigt wurde und in der Stadt der Ausnahmezustand ausgerufen werden sollte, kam Panik auf. Die Geschäfte wurden leer gekauft, ich stand zweieinhalb Stunden für Brot an. Die Leute waren aufgebracht. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. „Wenn die Heckenschützen jemanden aus Ihrer Familie getroffen hätten, würden Sie dann ruhig Blut bewahren?“, blaffte mich eine Frau an, die mit mir in der Schlange wartete.“
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Sechs Wochen nach unserer Landung in Tiflis haben Tea und ich viel gehört und gesehen, wir waren in Gori, wo mehrere Menschen durch Bombensplitter getötet oder verletzt wurden, und wir waren auch in den Dörfern an der neuen, nordossetischen Grenze. Wir ziehen ein erstaunliches Fazit. Kaum jemand sprach von Hass oder Vergeltung. Immer wieder hörten wir dieselben Sätze:
„Wir sind mit den Russen aufgewachsen, wir sind Nachbarn, Brüder, wir wollen keinen Krieg. Die Politiker streiten und die Menschen leiden darunter. Wir wollen diesen Hass nicht.“
Trotz der schrecklichen Dinge, die wir gesehen haben, der Flüchtlingslager und gerahmten Bilder mit schwarzen Bändern, sind wir irgendwie erleichtert. Vielleicht wurde ein neuer Grenzposten in die Erde geschlagen, doch einen Keil in die Herzen der Menschen vermochte dieser Konflikt nicht zu treiben – damals, 2008.

Flüchtlingscontainer für ossetische Flüchtlinge in der Nähe von Gori (© Alexandra Friedmann)
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Diesmal ist es leider anders. In Russland wütet der Nationalismus, in der Ukraine wurde ein blinder Hass auf Putin und seine Nation entfacht. Brüder, nicht metaphorische, sondern leibliche Brüder, die auf entgegengesetzten Seiten der russisch-ukrainischen Grenze leben, gehen im Streit über die Krim und die Geschehnisse in der Ostukraine auseinander.
Sogar in Deutschland, im beschaulichen Krefeld, wird gestritten. Meine Tanten Galina und Ina, die ursprünglich aus Kiew kommen, geben – ebenso wie meine Eltern – Russland in diesem Konflikt die Schuld. Doch einige ihrer besten Freunde, gebürtige Moskauer oder Petersburger, sind da ganz anderer Meinung. Die Krise in der Ukraine sprüht ihr Gift bis ins Wohnzimmer meines Elternhauses.
Ich schüttle immer noch den Kopf. Dieser Hass, der aus Angst entspringt: Russlands Angst vor dem Westen, Ukraines Angst vor Russland, die Angst der Menschen vor ihren Mitmenschen. Ich verstehe nicht, warum das heute noch sein muss.
„Die Grenzen der Willkür sind längst überschritten“, schreibt Ludmila aus Kiew. „Dabei sehnen wir uns so sehr nach Frieden!“
Da kann ich nur zustimmend nicken.
In ihrem Romandebüt „Besserland“ schildert Alexandra Friedmann die unglaubliche Reise der Familie Friedmann von Weißrussland nach Westen.