Srebrenica: Ein humanitärer Albtraum

20 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica sind immer noch nicht alle Opfer des Massakers identifiziert und bestattet worden. Bis heute arbeiten Forensiker an Dutzenden von Massengräbern in der einst zur Schutzzone erklärten Stadt. Doch wie konnte es trotz der Präsenz eines UN-Trupps vor Ort zu diesem Verbrechen kommen? Der Journalist und Autor Franz Feyder über die Hintergründe.

von Franz Feyder

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Foto: Franz Feyder

Ihre Füße stehen schulterbreit auseinander. Ihr Po berührt die Fersen. Stundenlang hockt Džemila so in gleißender Hitze und wartet auf Enis. Ihre Rechte streichelt über das grün gestrichene Holz, auf dem der Name ihres Sohnes steht. Als würde sie den Jungen liebkosen. Sein Gesicht in ihrer Hand bergen. 19 Jahre lang hat Džemila Enis nicht mehr gesehen. Hat um den 19-Jährigen gebangt. Gehofft. Gebetet. Heute – endlich – kommt er. Wie ein Popstar hebt und senkt sich Enis über ein Meer von Händen. Wird weitergereicht. Ein Wogen, das kein Ende nimmt. Bis Enis bei Džemila ankommt. In ihren Händen, in die das Leben tiefe, schwarze Furchen gezeichnet hat. Ein kleiner, mit grünem Stoff bespannter Sarg. Džemilas Schultern zucken heftig.

Jedes Jahr im Juli finden Hunderte von Toten so zurück zu ihren Familien. Bis heute wühlen sich Forensiker im bosnischen Tuzla durch Haufen menschlicher Überreste. Setzen mithilfe von DNA-Tests die Gebeine der mehr als 8000 massakrierten Männer und Jungen zusammen, die sie in Dutzenden von Massengräbern gefunden haben. Verscharrt von den Schergen des Serbengenerals Ratko Mladić, als der mit seiner Soldateska am 11. Juli 1995 Srebrenica stürmte. Die von den Vereinten Nationen (UN) zwei Jahre zuvor zur Schutzzone erklärte Stadt.

150 Quadratkilometer, vollgestopft mit 60.000 Muslimen, die hier nur das nackte Leben erwartete. Vier, fünf Familien in jedem Haus. Ohne Strom. Ohne Wasser. Dafür mit Zwiebeln, Brot und dem, was Transportflugzeuge der NATO ab und zu an Essbarem abwarfen. 100 Deutsche Mark kostete eine Schachtel Zigaretten, 50 ein Pfund Salz.

450 niederländische Blauhelme sollten diese UN-Schutzzone verteidigen. Schlecht ausgerüstet. Nicht in der Lage, zu kämpfen. Deshalb vertrauten die sogenannten DUTCHBATTER darauf, was ihrem Verteidigungsminister Joris Voorhoeve 1994 von den UN versprochen wurde: Greifen die Serben an, steigen binnen Minuten Jagdbomber der NATO auf und bombardieren die attackierenden Serben. Denn Warnungen, dass die die drei ostbosnischen Enklaven Srebrenica, Zepa und Gorazde im Sommer 1995 überrennen würden, gab es mehr als genug.

Erste Hinweise auf die Offensive erhielten Militärs im Dienste der UN im Februar. „Wir können annehmen, dass die Serben die sicheren Gebiete beseitigen werden“, bilanzierte General Manfred Eisele, damals oberster militärischer Berater der Weltorganisation. Und war sich sicher: „Die Bevölkerung wird dann vertrieben.“ Seinen Planern war klar: Dabei wird Blut fließen.

Deshalb reagierten seine Strategen: Sie planten, die leicht bewaffneten Niederländer durch eine dänische Panzerkompanie zu ersetzen. Sieben der weiß angemalten Leopard-Kampfpanzer schossen im April 1994 zwei Stunden lang bei Tuzla zurück, als sie in einen serbischen Hinterhalt gerieten. Mindestens 150 Serben starben, drei ihrer Kampfpanzer brannten aus. Seitdem herrschte Ruhe in dem Sektor, in dem die Skandinavier den fragilen Frieden in Bosnien sichern sollten. Die Dänen sollten Srebrenica verteidigen, so der Plan.

Der scheiterte bereits im April am Veto der damaligen US-Botschafterin bei den UN, Madeleine Albright. Das konnte weder durch die Warnung des in Bosnien eingesetzten britischen UN-Generals Rupert Smith verhindert werden, der sagte, die „Serben werden eine Enklave nach der anderen einnehmen“. Und auch nicht, als die DUTCHBATTER Mitte Mai an das UN-Hauptquartier kabelten, vor ihren Beobachtungsposten lagerten serbische Soldaten Artilleriemunition aus und brächten Haubitzen in Stellung.

In den USA wurden die Hinweise ignoriert. Ende Mai berichtete ein Spitzel eines US-Nachrichtendienstes, ein Angriff auf „Srebrenica wird in wenigen Wochen erfolgen“. Trotzdem entschied US-Präsident Bill Clinton am 28. Mai 1995 mit seinen engsten Beratern, dass in „vorhersehbarer Zukunft keine Luftangriffe“ in Bosnien geflogen würden. Ein Freibrief für sein serbisches Pendant Slobodan Milošević, die UN-Schutzzonen in Bosnien anzugreifen.

Es mutet wie Sarkasmus an, dass ausgerechnet Clinton vor zwei Jahren einen kleinen Teil der Geheimdokumente freigab, die amerikanische Geheimdienste in den drei Jahren zu Bosnien-Herzegowina angefertigt hatten. 341 Dokumente gaben die US-Dienste für die Öffentlichkeit frei – viele Passagen sind noch geschwärzt. Trotzdem geben sie einen Einblick in eine Lehrstunde geradezu satanischer, menschenverachtender Realpolitik. Ein Freibrief für den Angriff auf Srebrenica, der damals noch nach Belgrad überstellt werden musste.

Das geschah zwei oder drei Tage später: Da befragte der serbische Präsident Slobodan Milošević in Belgrad einen US-Diplomaten, wie sich die NATO verhielte, griffen die Serben die ostbosnischen Schutzzonen an. Er habe „einladendes Schweigen“ zur Antwort bekommen. Milošević interpretierte: Greift er an, wird er allenfalls die Gegenwehr der niederländischen Infanteristen und eines zusammengewürfelten Haufens mit Jagdgewehren und einigen Kalaschnikows ausgerüsteten Muslimen zu erwarten haben.

Derweil sah drei Tage nach dem „no-bomb“-Entschluss des US-Präsidenten dessen Sicherheitsberater Sandy Berger die Lage klar: Einen „humanitären Albtraum“ sagte er in einem Memorandum vom 1. Juni für den Fall voraus, dass sich die Blauhelme aus den Schutzzonen zurückzögen. Unter der Überschrift „Serben wollen die Enklaven“ stellten Analysten des US-Geheimdienstverbundes „Balkan Task Force“ sachlich fest: „Srebrenica ist die verwundbarste Schutzzone“. Mit anderen Worten: Sie wird zuerst angegriffen.

Das geschah erstmals am 3. Juni. Milošević testete die selbst auferlegte US-Zurückhaltung aus. Er griff den Beobachtungsposten „Echo“ am südlichen Rand der Schutzzone an. Er sollte die Straße schützen, die von der Drina durch die Hügel nach Srebrenica führt. Acht Niederländer wurden erst gefangen genommen, durften dann abziehen. Das Tor in die frühere Silberstadt war offen – niemand in der Staatengemeinschaft protestierte auch nur.

Das galt auch, als die Angriffsspitzen am 8. Juli ein zweites Mal testeten, wie die Weltgemeinschaft auf einen Angriff reagieren würde. Seine Truppen umringten den Beobachtungsposten „Foxtrott“, entwaffneten die niederländischen Blauhelme und nahmen sie als Geiseln. Wer „Foxtrott“ auf der Anhöhe im Süden der Enklave beherrschte, beherrschte den Talkessel, in den sich Srebrenica schmiegt, war den DUTCHBATTERN um Kommandeur Tom Karremanns bewusst. Trotzdem warteten sie vergeblich darauf, dass die serbischen Angreifer aus der Luft bombardiert würden.

Zwei Tage später stürmte Mladićs Militärhaufen die Hügel hinab in die Stadt. Den verzweifelt um Hilfe bittenden Holländern wurden für den 11. Juli, 6.50 Uhr, Luftangriffe zugesichert. 40 Jagdbomber der NATO würden mit Sonnenaufgang in Italien starten und die Serben aus der Luft angreifen. In Srebrenica gingen Fliegerleitoffiziere der britischen Spezialeinheit SAS in Stellung, um die Angriffe vom Boden aus zu dirigieren. Vergeblich. Die Entscheidung Präsident Clintons vom 28. Mai, keine Luftangriffe zu fliegen, hatte Bestand. Am Mittag des 11. Juli marschierte Mladić in die Stadt ein. Schon Wochen zuvor hatte er befohlen, alle „Männer zwischen 16 und 60 Jahren einer intensiven Befragung zu unterziehen“.

Das heißt: Mladić wollte die Männer töten – und so verhindern, dass Muslime Kinder zeugen konnten. Systematisch ließ er die Männer auf Sportplätzen und in Fabrikhallen aufreihen und erschießen. Mit in die Angriffsspitzen eingereihten Baggern ließ er sie eilig in Massengräbern verscharren. Um sie Wochen später wieder zu exhumieren, von Raupenfahrzeugen überrollen und zerstückeln zu lassen und die Leichenteile dann in neue Massengräber zu verscharren. Es gibt Männer, deren Überreste Forensiker in sieben verschiedenen Gräbern fanden.

Sechs Tage später befand Sicherheitsberater Sandy Berger geradezu zynisch zur Realpolitik: „Der Fall Srebrenicas und Zepas könnte den Weg zu realistischen territorialen Lösungen in Bosnien eröffnen. Wir werden uns die Bosnier mit dem Ziel zur Brust nehmen müssen, sie von einer größeren Flexibilität auf der Landkarte zu überzeugen.“

Džemila hockt auf der rotbraunen Erde, die Totengräber über ihren Enis geschaufelt haben. Still hockt sie da. Mit geröteten Augen. Sie streichelt das grüne Brett mit dem Namen ihres Sohnes. Sie hat nichts mehr. Nur noch Fragen. Und diese Geschichte.


 

Weblinks
„Exportschlager Tod” auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

Franz Feyder

Franz Feyder

Franz Feyder ist ehemaliger Berufsoffizier, Politologe, Kriegsreporter und investigativ arbeitender Journalist. Er berichtete für ARD und ZDF aus dem Irak und Afghanistan sowie für den STERN aus Bosnien und dem Kosovo. Als Mitglied eines niederländischen Journalisten-Teams des Radiosenders VPRO erhielt er mehrere renommierte Auszeichnungen. Sein Buch Exportschlager Tod erschien 2009 im Econ Verlag.

Foto: © Marlene Mondorf

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