Wie schon die Bestsellerautorin Helen Macdonald in „H wie Habicht“ berichtet der ehemalige Soldat und Autor Johannes Clair, wie er seinen Frieden in der Einheit mit dem Greifvogel sucht. Von seinen Afghanistan-Einsätzen kehrte er als veränderter Mann heim. Seinen Weg zurück in den Alltag schildert er hier.
von Johannes Clair
„Warum bleibst Du nicht einfach hier?“, sagte der hagere Mann mit den langen blonden Haaren und dem festen Blick. Ich stand etwas verunsichert vor ihm und betrachtete die Szenerie vor meinen Augen.
Auf den Holzblöcken an der Burgmauer standen sie aufgereiht im Halbschatten: helle Greifvögel, dunkle Greifvögel, gesprenkelte Greifvögel und ein Vogel, den ich für eine Eule hielt. Seine bernsteinfarbenen Augen starrten mich bewegungslos an.
Es war der Mai 2007, Frühsommer. Ich war auf der Rückreise aus dem bayerischen Altenstadt, wo ich in den vergangenen Wochen Fallschirmspringen gelernt hatte. Genauer gesagt das militärische Fallschirmspringen. Nicht das sanfte Gleiten, das Freifallspringer nutzen, um möglichst lange in der Luft zu bleiben.
Ich und meine Kameraden wurden an altmodischen Rundkappenschirmen ausgebildet. Abgesetzt aus nur 400 Metern Höhe aus der Transall, jenem wuchtigen Transportflugzeug, das seit den Sechziger Jahren in der Bundeswehr im Einsatz war. Möglichst viele Fallschirmjäger möglichst schnell runterbringen, war das Ziel. Die Schirme öffneten sich beim Verlassen der Maschine automatisch. Die Landung glich mehr einem Einschlag, sechs Meter pro Sekunde, bei günstigem Wind. Die Ausbildung war hart, die Überwindung für mich groß, vor allem aufgrund meiner Höhenangst.
Es war in keiner Weise mit dem eleganten Flug eines Greifvogels vergleichbar.
Das wunderschöne Gefieder, die klaren, strengen Augen, die kräftigen Krallen
Greifvögel haben mich schon immer fasziniert. Ihre Erhabenheit, die Kraft, die sie mit nur wenigen Flügelschlägen in wahnsinnige Geschwindigkeiten umzusetzen vermochten. Ihre schlichte Schönheit.
Nie war ich einem solchen Tier näher als einige Meter gekommen. Und das auch nur im Tierpark, durch ein Gitter getrennt.
Jetzt stand ich vor ihnen, konnte sie aus nächster Nähe sehen. Das wunderschöne Gefieder, die klaren, strengen Augen, die kräftigen Krallen.
Der Absprungplatz in Altenstadt war von meiner Heimat im Norden weit entfernt. Deshalb fuhr ich an den freien Wochenenden während des Lehrgangs nach Wiesbaden, um meine Großeltern zu besuchen. Unterwegs führte mich die Autobahn am Odenwald vorbei. Seine grünen Hänge und majestätischen Burgen fesselten meinen Blick jedes Mal aufs Neue. Und so beschloss ich auf der Rückreise vom Lehrgang, der Burg einen Besuch abzustatten, die mir während der langen Fahrten am meisten ins Auge gefallen war.
Es war eine Spontanentscheidung, die mich von der Autobahn führte, ich hörte auf mein Bauchgefühl. Instinkt. Ohne einen Cent in der Tasche und in der Hoffnung, oben keinen Eintritt zahlen zu müssen, durchquerte ich den kleinen Ort am Fuß des Hügels.
Die mächtigen Mauern beeindruckten mich schon von Weitem. Das Auerbacher Schloss lag wie im Dornröschenschlaf zwischen grünen Bäumen und schroffen Felsen. Und in einem der Höfe begegnete ich jenem Mann, der mein Leben verändern sollte.
Als ich ihn und seine Vögel erblickte, fragte ich ihn, wann die nächste Flugvorführung stattfinden sollte. Leider stellte sich heraus, dass diese erst am nächsten Tag sein würde. Er wäre jetzt nur am Aufbauen seines Lagers, berichtete er.
Der Flug mit den Greifvögeln bedeutet Freiheit
Auf diese Weise kamen wir ins Gespräch. Und weil ich noch meine Uniform trug und er sich sehr für mein glänzendes Springerabzeichen interessierte, das meine Brust zierte und ich außerdem unzählige Fragen zu seiner Arbeit als Falkner hatte, blieb ich eine Weile.
Auf mein Bedauern, weiterfahren zu müssen, weil meine Großmutter mit dem Essen warten würde, lud er mich zum Bleiben ein. Nach kurzem Überlegen nahm ich mein Telefon in die Hand.
Meine Großmutter in Wiesbaden war nicht begeistert. Aber ich war fest entschlossen, bis zum nächsten Tag bei diesen wunderbaren Vögeln zu bleiben. Instinkt.
Inzwischen arbeite ich seit vielen Jahren für meinen Falkner, soweit es die Zeit erlaubt. Jedoch war ich durch meinen Einsatz in Afghanistan und die Therapie meiner Posttraumatischen Belastungsstörung in letzter Zeit gehindert.
Aber immer wieder denke ich an meine Fallschirmsprünge und das großartige Gefühl, das Flugzeug zu verlassen, am Schirm zu hängen und über den Dingen zu schweben. Die Stille um mich nach dem Lärm in der Maschine, die klare Luft und das Bewusstsein, am Schirm für jede meiner Handlungen selbst verantwortlich zu sein, aber trotzdem der Natur und meiner Umwelt ein Stück weit ausgeliefert zu sein, bedeutet für mich Freiheit. Freiheit, festgeschnallt im Gurtzeug des Fallschirms.
Und genau so fühlt sich für mich der Flug mit den Greifvögeln an. Denn sie bedeuten Freiheit.
Sie von meiner Faust starten zu lassen, den Lederhandschuh hoch in die Luft haltend, wartend, dass sich der Vogel mit kraftvollen Flügelschlägen erhebt, in die Höhe steigt, über mir kreist.
Die Hoffnung, dass er zurückkehrt, während ich ihm das Federspiel als Beuteattrappe anbiete. Denn Greifvögel haben ihren eigenen Kopf. All die Falken, Adler und Eulen, Geier und Habichte können nicht gezähmt werden. Auch das macht den faszinierenden Reiz dieser wunderschönen Tiere aus.
Denn im Gegensatz zu Rudeltieren wie dem Hund ordnen sie sich nicht unter. Lediglich der Anreiz und das gewachsene Vertrauen sind es, die sie auf die Faust des Falkners zurückführen – oder manchmal eben auch nicht. Instinkt.
Sie spiegeln mich und sie sind ehrlich zu mir
Aber während sie über mir kreisen, sich immer wieder auf die Beuteattrappe stürzen, wieder emporschwingen und mit ausgebreiteten Flügeln schweben, fühle ich mich, als wäre ich einer von ihnen. Die Freiheit, die ich am Fallschirm spürte, als ich über den kleinteiligen Problemen des Alltags und all den Dingen da unten durch die Luft glitt. Die Nervosität, ob ich mein Ziel sicher erreichen würde und die Anspannung kurz vor der Landung.
Der Falknerhandschuh ist mein Gurtzeug. Die einzige Verbindung zu dem, was über mir schwebt. Und in dem Bewusstsein, dass mich der scharfe Blick des Vogels mustert, fliege ich umher, gemeinsam mit ihm. Losgelöst und frei, einfach über den Dingen.
Und wenn er sich schließlich anschickt, die dargebotene Belohnung zu erreichen und die kräftigen Schnäbel in das tote Küken schlägt, ist es, als wäre ein Teil von mir zu mir selbst zurückgekehrt, den ich für einen Augenblick in der Lage gewesen war loszulassen. Frei sein zu lassen. Auf den Schwingen des Adlers.
Diese wunderschönen Geschöpfe gehören zum Schönsten, das mir jemals begegnet ist. Und zeigen mir auch immer wieder die Grenzen meiner Freiheit auf. Wenn wir wieder einen Vogel suchen müssen. Wenn er sich störrisch auf einen Baum setzt und nicht herunterkommen möchte. Wenn ich einen schlechten Tag habe, meine Seele im Ungleichgewicht ist und der Vogel nach mir pickt. Weil er es spürt. Instinkt.
Sie spiegeln mich und sie sind ehrlich zu mir. Das ist ein so wertvolles Geschenk, wie es uns nur selten im Leben zuteil wird. Und so hoffe ich, mich noch häufig in die Luft erheben zu können, gemeinsam mit einem dieser wunderbaren Tiere, unter den wachsamen Augen meines Falkners, der mich an diese traumhaft schöne Arbeit herangeführt hat.
Lesen Sie hier über die Arbeit der Übersetzerin von Helen Macdonalds „H wie Habicht”
Weblinks
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Die Website des JS-Magazins
„Vier Tage im November“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
[…] Auf den Schwinges des Adlers, einen Blogartikel von Johannes Clair (ihr wisst ja: Vier Tage im November), über sein Hobby, die […]