Der Nicht-Tod des Neoliberalismus und die späte Reaktion der Linken

Während in den Medien der um sich greifende Rechtsruck die Schlagzeilen beherrscht, vollzieht sich parallel dazu ein gegenteiliges Phänomen: Im angelsächsischen Raum ist die Linke auf dem Vormarsch. Der verdiente Politiker und Autor Erhard Eppler beschreibt den aktuellen politischen Trend und findet seine Ursachen.

von Erhard Eppler

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Foto: Phil Roeder (CC-BY 2.0)

Die marktradikale Welle, die sich neoliberal nannte, hat in Europa die konservativen und liberalen Parteien wesentlich mehr geprägt als die sozialdemokratischen. Aber auch diese hat der Marktradikalismus, der sich als Wissenschaft ausgab, nicht unberührt gelassen, zumal die Medien in der westlichen Welt, vor allem, wenn es um Wirtschaft ging, in ihrer Mehrheit dieser Lehre huldigten.

Darauf ist es wohl zurückzuführen, dass 2008 das geschah, was Colin Crouch den „befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ nannte („The Strange Non-death of Neoliberalism“). Im Gegensatz zu seinem deutschen Verlag hat Crouch nicht das Wort „survival“ (Überleben) benutzt, sondern die, auch im Englischen, ganz ungewöhnliche Formulierung „Nicht-Tod“. Er wollte damit wohl sagen, dass die Bankenkrise eigentlich das Ende des Marktradikalismus hätte bedeuten müssen, weil sie alle wichtigen Thesen dieser Wirtschaftslehre widerlegt hatte. Die Märkte, zumal die Finanzmärkte, stabilisierten sich eben nicht selbst, die Staaten, die nur noch als Hindernisse für die Märkte galten, mussten die Banken retten. Bald kam es so weit, dass Banken einander keinen Kredit mehr ohne eine staatliche Garantie gaben.

Er war einfach noch da, nicht tot und wirkte weiter.

Diese Staaten mussten jedoch weit mehr als in früheren Zeiten Schulden machen, zunächst, um die Banken zu retten, dann, um die eingebrochene Konjunktur wieder anzukurbeln. So wurde aus der Bankenkrise die Finanzkrise der Staaten. Thema waren plötzlich nur die Staatshaushalte, die Banken zahlten wieder großzügige Boni. Über den radikalisierten Neoliberalismus, der zur Bankenkrise geführt hatte, wurde kaum mehr gesprochen. Er war nicht tot. Er überlebte aber auch nicht, weil er sich argumentativ verteidigt hatte. Er war einfach noch da, nicht tot und wirkte weiter.

Keine der sozialdemokratischen Parteien hat je ein Gesamtkonzept zur Überwindung einer Ideologie vorgelegt, die so etwas wie die letzte Konsequenz eines lupenreinen Kapitalismus war. Die Europäische Union hielt gegenüber hoch verschuldeten Staaten ohne Zögern an Rezepten fest, die aus der marktradikalen Küche kamen.

Jetzt, 2015, also sieben Jahre nach dem Bankencrash, ereignet sich, was niemand erwartet hat. Sind wir, ist die Linke, nur Spätzünder?

Die erstarkte Linke im angelsächsischen Raum

In Großbritannien, wo die Labour Party unter Blair sich dem Marktradikalismus am weitesten geöffnet hatte, wird der Hinterbänkler Jeremy Corbyn, der nachweisen kann, dass er 500 mal gegen die Parteilinie votiert hat, ein krasser Außenseiter also und bisher nur geduldet, weil er seinen Wahlkreis im Norden Londons bei jeder Wahl geholt hatte, zum Parteivorsitzenden gewählt. Und daraufhin meldeten sich bei der Labour Party 62.000 neue Mitglieder an. Niemand weiß, wie das weitergehen wird. Das hängt vor allem von jenem Jeremy Corbyn ab, der offenbar auch mehr taktisches Geschick hat als man ihm zutraute.

In den USA macht Bernie Sanders, ein demokratischer Bewerber um die Präsidentschaft, von sich reden, der weit links von Barack Obama argumentiert, sich als demokratischer Sozialist bezeichnet und im Grunde nichts weniger im Sinn hat, als den Marktradikalismus aus dem Land zu verbannen, in welchem er konzipiert wurde und bislang als unbesiegbar galt.

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Jeremy Corbyn (Foto: D.M. Hunt)

Und nun kommt die Nachricht, dass in Kanada, welches sich scheinbar an den eindeutig marktradikalen Regierungschef Stephen Harper gewöhnt hatte, die Liberalen die absolute Mehrheit gewonnen haben. Plötzlich wird das riesige Land wieder von einem Trudeau regiert, einem Sohn des Mannes, der auch bei den europäischen Sozialdemokraten einen guten Namen hatte.

All dies sind Überraschungen, und all dies kommt aus dem angelsächsischen Raum, aus dem auch Margaret Thatcher und Ronald Reagan stammen. Die Politik in den USA ist zunehmend gelähmt durch eine Polarisierung, wie sie im 20. Jahrhundert eher in Europa üblich war. Aber offenbar müssen nicht notwendigerweise diejenigen die Mehrheit haben, die schon „Verrat!“ oder „Kommunismus!“ rufen, wenn ein Präsident dafür sorgen will, dass alle Amerikaner eine Krankenversicherung haben.

Die Riege der republikanischen Präsidentschaftskandidaten sieht nicht so aus, als sei darunter jemand, der geboren ist, diese Weltmacht zu führen. Dass der Bruder jenes Präsidenten, der mit einem der dümmsten Kriege der neueren Geschichte das Chaos im Nahen Osten angerichtet hat, zu den seriöseren Bewerbern gehört, spricht Bände.

Die Rückkehr der Solidarität zwischen Staaten?

In Europa ist die griechische Revolution gegen die Diktate des Internationalen Währungsfonds noch einmal niedergeworfen worden. Aber der Widerstand gegen ein Europa des Wettbewerbs zwischen Staaten wächst. In der Flüchtlingskrise wird plötzlich wieder die europäische Solidarität beschworen. Werden wir uns bald darüber wundern, dass wir wirklich eine Gemeinschaft bauen wollten mit der Wettbewerbsfähigkeit als höchstem Wert? Dem gesunden Menschenverstand hat dies nie eingeleuchtet, aber für Marktradikale verstand es sich von selbst. Wettbewerb trennt, Solidarität, gegenseitige Rücksicht und Hilfe verbindet. So einfach ist das. Das gilt auch für die europäische Union. Ehe sie auseinanderläuft, könnte sie sich darauf besinnen. Und die Besinnung müsste in den stärkeren Ländern, vielleicht in Deutschland, beginnen. Denn jetzt bedarf auch die BRD der Solidarität.

Deutet all dies darauf hin, dass der „strange Non-Death“ des Marktradikalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist? Gibt es immer mehr Menschen, die wie Crouch meinen, er müsse eigentlich tot sein? Suchen respektable Kräfte gerade in den Ländern nach einer Alternative, wo wir es am wenigsten erwartet haben, während da, wo wir solche Kräfte vermutet hatten, nur verwirrtes Staunen herrscht?

Der Soziologe Wolfgang Streeck, der in Deutschland ganz sicher nicht zum Mainstream gerechnet wird, sieht den Kapitalismus unaufhaltsam seinem Ende entgegentrudeln, nicht zuletzt, weil die Gegenkräfte, die ihn zügeln könnten und sollten, zu schwach geworden sind. Streeck weiß natürlich auch nicht, was nach dem Kapitalismus kommen soll. Würde er sich gerne widerlegen lassen von den Kräften, die sich jetzt, sieben Jahre nach dem Nicht-Tod seiner reinsten und übelsten Form zu regen beginnen?


Weblinks
„Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen” auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Website von Erhard Eppler

Erhard Eppler

Erhard Eppler

Erhard Eppler, geboren 1926 in Ulm, Mitbegründer der Gesamtdeutschen Volkspartei, hatte in den 1970er und 1980er Jahren diverse Führungsämter in der SPD inne und war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, von 1961 bis 1976 Abgeordneter im Bundestag, danach bis 1982 im baden-württembergischen Landtag. Im Januar 2015 wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Schwäbisch Hall verliehen. Sein Buch Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen ist am 23.10. bei Propyläen erschienen.

Foto: © Jörg Hüster

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