Eltern kennen das Problem: ewiges Wetteifern auf Spielplätzen und in Kitas, wessen Kind schon was kann (und vor allem: was nicht), Früherziehung und Förderung der potenziellen Talente in allen Bereichen und der Wunsch, sein Kind möglichst perfekt auf die Welt da draußen vorzubereiten. Doch muss das eigentlich sein, „perfekt“? Oder genügt nicht auch „normal“?
von Silke und Felix Denk

Buntes Treiben auf dem Kinderspielplatz (Foto: Benjamin Vieth)
Der Anlass war nichtig. Wir waren mit Freunden auf dem Spielplatz. Sie haben einen Zweijährigen, genauso wie wir. Während die Kinder Baustelle spielten und eine große Grube aushoben, fiel unserem Sohn ein Affe auf einem Sandeimer auf.
„Affe“, quietschte er und deutete mit seiner grünen Schaufel auf das Tier. Freude funkelte in seinen Augen.
Wir dachten: Ach, wie süß, dass er schon Tiere erkennt. Der acht Wochen ältere Sohn der Freunde dagegen rollte nur die Augen und leierte im Tonfall eines pubertierenden Teenagers: „Das ist ein Schimpanse.“
Elterliche Blitzverunsicherung: O Gott – was haben wir falsch gemacht? Müssen wir öfter in den Zoo gehen? Lesen wir genug? Sollen wir unseren Sohn jeden Abend mit Brehms Tierleben terminologisch auf die Artenvielfalt dieser Welt vorbereiten? Zweifel zuckten durch unsere Synapsen und die Hirnflüssigkeit begann zu brodeln: Warum ist der Freundessohn so superschlau? Oder ist unserer etwas tumb? Wird unser Kind jemals den Schulabschluss schaffen? Als Hartz-IV-Empfänger enden? Erst mit etwas zeitlichem Abstand gesellte sich eine weitere Frage hinzu: Warum, zum Teufel, meinen wir, es könne etwas mit unserem Sohn nicht stimmen, nur weil er mit zwei Jahren einen Schimpansen „Affe“ nennt?
Sicher, Eltern neigen zur Hysterie. Die Furcht, der Nachwuchs könne eventuell nicht perfekt sein, beginnt schon mit der Geburt. Die Angst vor dem Unperfekten ist offenbar ein Grundgefühl heutiger Väter und Mütter. Und sie befällt auch jene, die ihr Kind gerne Kind sein lassen möchten, anstatt es montags zur bilingualen Singschule, dienstags zum kreativen Gestalten, mittwochs zum Kids Dance, donnerstags zur Forschergruppe und freitags ins Kindermuseum zu scheuchen.
Es ist natürlich leicht, über die chronischen Ehrgeizlinge unter den Eltern zu spotten, die besessen davon scheinen, ihre Kinder für die Unbarmherzigkeiten des globalisierten Wettbewerbs aufzurüsten. Doch auch wenn man dabei nicht mitmacht, fragt man sich schnell: Schenken wir unserem Kind genug Aufmerksamkeit? Verbauen wir ihm etwas? Müssen wir mehr fördern? Und wenn ja, dann was?
Der Zugzwang beginnt ja schon kurz nach der Entbindung – mit Babyyoga, Babymassage, Pekip und musikalischer Früherziehung hat sich eine ganze Industrie auf die Bedürfnisse Orientierung suchender Neueltern eingeschossen. Nicht, dass das alles brandneu wäre. Als wir selber klein waren, Ende der 70er Jahre, wurden wir von unseren Müttern zum Babyschwimmen gebracht und bald danach zum Orff, der nach dem Komponisten benannten Musikerziehung. Trotzdem scheint sich seither etwas Grundsätzliches im Umgang mit Kindern verschoben zu haben. Früher, so diagnostizierte die Süddeutsche Zeitung vor einer Weile, seien Kinder ein natürlicher Nebeneffekt des Geschlechtsverkehrs gewesen; heute dagegen seien sie perfekt getimte Wunschkinder, präzise eingepasst ins enge Zeitfenster, das der Lebenslauf zwischen Karriereplanung und Selbstverwirklichung offen lässt. Und deshalb hätten sie auch bitteschön perfekt zu sein.
Das hat natürlich Folgen. Dies fängt bereits in der Krabbelgruppe an. Denn immer, wenn Eltern auf andere Eltern treffen – also andauernd –, muss verglichen und abgeglichen werden. Natürlich wird dabei gelogen, dass sich die Balken biegen: Jonathan schläft schon durch, Bruno liebt seine jüngere Schwester, Jakob interessiert sich weder für Schokolade noch für Gummibärchen, Xaver zieht sich immer ganz schnell selbst an, wenn wir es eilig haben, Ben liebt Haare waschen, Mila wünscht sich zu Weihnachten nur eine fair gefertigte Holzflöte von einem Hilfsprojekt aus den Anden, Henry leiht sein Spielzeug total gerne aus, Carla liebt es, ihr Zimmer aufzuräumen …

© Bundesarchiv Bild 183-87238-0002, Foto: Weigelt 13. Oktober 1961
Abgesehen davon ist das Vergleichen immer auch eine Wertung. Elterngespräche sind eine permanente Siegerehrung – inklusive Verliererschelte. Tatsächlich muss man als Familie dauernd in den Ring steigen; im Grunde herrscht Wettbewerb ab dem Moment des Kinderwunsches: Wer wird am schnellsten schwanger? Wer bekommt eine der raren Beleghebammen? Wer ergattert einen der viel zu wenigen Kitaplätze? Wie oft holt der Vater das Kind von der Kita ab, wie oft geht die Mutter arbeiten? Wer kommt bei der besten Kinderärztin im Viertel unter, die schon lange keine Patienten mehr annimmt?
Alles wird andauernd verglichen ‒ am meisten natürlich, was welches Kind schon kann und was nicht. Und wehe, die U7 kommt! Das ist keine U-Bahn, sondern die Untersuchung, in der der Kinderarzt die 20 Monate alten Kinder auf ihre Fähigkeiten überprüft ‒ eine Art Entwicklungs-TÜV. Manche Eltern üben mit ihren Kinder dafür extra malen, auf einem Bein hüpfen und Wörter aussprechen, denn es ist ja so eine Art erstes Zeugnis. Natürlich würde hier Gelassenheit gut tun. Doch das ist so leicht gesagt wie: „Sei doch mal spontan!“ Es scheint, als sei die Statusangst, dieses nagende Grundgefühl, das der englische Intellektuelle Alain de Botton der modernen Leistungsgesellschaft attestierte und das sich aus albtraumhaften sozialen Abstiegsfantasien speist, besonders bei jungen Eltern endemisch.
Heute haben wir zwei Söhne. Sie sind vor allem eins: normal. Etwa normal groß. Etwa normal umgänglich. Etwa normal schlau und normal geschickt. Sie sind eben Durchschnitt. Na gut, Haare hat der jüngere immer noch kaum, während einige seiner Kumpels schon beim Kinderfriseur ein- und ausgehen. Der Ältere ist ein bisschen maulfaul, und Fahrrad fahren kann er auch noch nicht. Nur eine Sache, die konnte er viel früher als die anderen: Krabbeln. Schon mit sieben Monaten flitzte er pfeilschnell über den Boden. Da konnte sich manch anderer aus der Pekip-Gruppe noch nicht mal drehen. Wir konnten den Neid der anderen Eltern spüren. Und wir waren so stolz …
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Felix und Silke Denk
Felix Denk studierte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und Kulturjournalismus an der UdK. Heute arbeitet er als Redakteur des Berliner Stadtmagazins zitty und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, Dummy und Groove.
Silke Denk ist Werbetexterin, arbeitet für renommierte Agenturen wie BBH, Jung von Matt und Kolle Rebbe und betreut Kunden wie IKEA, Levi’s, AXE und Nachtklubbesitzer.
Silke und Felix Denk leben mit ihren zwei Kindern in Berlin. Ihr gemeinsames Buch „Eltern, die auf Schaukeln starren“ erschien im Februar 2015 im Ullstein Verlag.
Weblinks
„Eltern, die auf Schaukeln starren“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Achja, Hartz IV-Empfänger = blöd?????
Danke für die Verallgemeinerung. Es gibt auch Doktoranden, die Hartz IV beziehen.