Bernie Sanders – alles andere als „radikal“

Von seinen Kritikern wird Bernie Sanders oft als Radikaler abgetan – dennoch bekommt er für seine Standpunkte viel Unterstützung aus der Bevölkerung. Was ist also „radikal“ an Bernie Sanders? Nichts, meint Noam Chomsky – die Achse des politischen Spektrums in den USA hat sich verschoben.

von Noam Chomsky

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© Michael Vadon / CC BY-SA 2.0

Bernie Sanders ist ein äußerst interessantes Phänomen. Er ist anständig und ehrlich – Eigenschaften, die in der Politik ziemlich ungewöhnlich sind. Dennoch wird er als radikal und extremistisch angesehen. Das ist eine bemerkenswerte Einschätzung. Denn im Grunde ist Sanders ein klassischer New-Deal-Demokrat. Die Positionen, die er vertritt, hätten Präsident Eisenhower nicht überrascht, der seinerzeit sagte, dass jeder, der die New-Deal-Reformen nicht akzeptiere, im politischen System der USA nichts zu suchen habe. Heute gilt so etwas nun als sehr radikal.

Ein anderer interessanter Aspekt an Sanders‘ Standpunkten ist der, dass sie stark von der Allgemeinheit unterstützt werden, und dies schon seit Längerem. Das betrifft etwa die Themen Steuern und Gesundheitswesen. Nehmen wir Letzteres  als Beispiel: nämlich sein Eintreten für ein landesweit einheitlich geregeltes Gesundheitssystem – ein System, wie es so ziemlich jedes andere Industrieland hat, das dabei mit der Hälfte der Pro-Kopf-Kosten des US-Systems auskommt und auch noch vergleichbare oder bessere Ergebnisse zeigt. Solch ein System beurteilt man momentan als radikal. Dabei war dies für lange Zeit die Meinung eines Großteils der amerikanischen Bevölkerung. Als Barack Obama den Affordable Care Act durchdrückte, gab es die Option einer staatlichen Krankenversicherung, die aber letzten Endes wieder gestrichen wurde ‒ obwohl fast zwei Drittel der Bevölkerung sie für eine gute Idee hielten. Wenn man zurückblickt in die Reagan-Ära, dann waren damals fast 70 Prozent der Bürger der Meinung, eine staatliche Krankenversicherung solle in der Verfassung verankert werden, weil dies ein offensichtliches Grundrecht sei. Und tatsächlich dachten 40 Prozent der Menschen sogar, dass sie bereits in der Verfassung verankert wäre ‒  eben, weil sie ein Recht darauf haben. Das Gleiche gilt für die Steuerpolitik und andere Dinge.

Wir begegnen also dem Phänomen, dass jemand Standpunkte vertritt, die während der Eisenhower-Jahre noch als ziemlich massenkompatibel gegolten hätten und die auch heute von einem großen Teil, oft sogar von einer bedeutenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden. Und dennoch wird diese Person als radikal und extremistisch abgestempelt. Dies ist ein Zeichen dafür, wie weit sich die politische Skala während der neoliberalen Phase nach rechts bewegt hat – so weit, dass die gegenwärtigen Demokraten fast schon das sind, was man mal als „moderate Republikaner“ bezeichnet hat. Die heutigen Republikaner sind sogar aus der Skala verschwunden. Sie sind gar keine legitime parlamentarische Partei mehr.

Bernie Sanders‘ Verdienst ist es, dass er die Mainstream-Demokraten wieder ein bisschen mehr auf die progressive Seite gedrängt hat. Das sieht man zum Beispiel an Hillary Clintons Aussagen. Außerdem hat er es geschafft, eine große Anzahl junger Leute zu mobilisieren – diese jungen Leute, die sagen: „Achtung – wir sind nicht mehr mit allem einverstanden!“ Wenn diese sich mobilisieren und zu einer organisierten und anhaltenden Kraft entwickeln, dann könnte dies unser Land verändern – vielleicht noch nicht bei den kommenden Wahlen, aber auf lange Sicht.

 

Dieser Beitrag ist im englischen Original bei democracynow.org erschienen.


 

Das Buch
Auch nach der Ära Obama gilt: Die USA betrachten sich grundsätzlich als die Guten – selbst dann, wenn sie das Gleiche tun wie jene, denen sie Böses unterstellen: Zivilflugzeuge abschießen, willkürlich Leute inhaftieren und mit Drohnen umbringen oder in fremde Länder einmarschieren. Das Primat der militärischen Intervention und der unerbittliche Drang, alleinige Weltmacht zu bleiben, bilden die Konstanten der amerikanischen Politik – auch wenn dadurch Staaten ins Chaos und Menschen ins Verderben getrieben werden. Im Land dagegen haben die Reichen und Mächtigen fast freie Hand, jenseits demokratischer Kontrollen und unbeachtet von einer zunehmend gleichgültigen Bevölkerung. Wohin führt uns das? Welche Folgen hat das für den Rest der Welt? In seiner so brillanten wie präzisen Analyse zeigt Noam Chomsky die fatalen Folgen der imperialen Politik der USA für das ohnehin immer chaotischere Zusammenleben auf unserem Planeten.

Links
Wer beherrscht die Welt? auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Website von Noam Chomsky

Noam Chomsky

Noam Chomsky

Noam Chomsky, geboren 1928, ist Professor emeritus für Sprachwissenschaft und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er hat die moderne Linguistik revolutioniert und zahlreiche Bestseller über Politik verfasst. Chomsky ist einer der weltweit bekanntesten linken Intellektuellen und seit seinem Engagement gegen den Vietnamkrieg einer der prominentesten Kritiker der US-amerikanischen Politik wie auch des globalen Kapitalismus. Am 14.10.2016 erscheint sein Buch Wer beherrscht die Welt? im Ullstein Verlag.

Foto: © Duncan Rawlinson

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