Der folgende, bislang unveröffentlichte, Beitrag Badawis ist laut eigener Aussage einer seiner besten und wichtigsten Texte. Darin schreibt er über den Roman „Die Dame des Königreichs” des syrischen Dichters Al-Muthanna Al-Sheikh Attia und zieht Parallelen zum syrischen Frühling, der seinen vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2011 erreichte.
von Raif Badawi
Erschienen am 5.1.2012 in „al-Hewar al-Mutamaddin“
„Hier bin ich wieder, zwischen Himmel und Erde, wieder kreise ich einsam über dem Abgrund des offenen Horizonts der Qual meiner Fragen…” Wenn der Roman, den man gerade gelesen hat, mit einem Satz wie diesem beginnt und mit demselben auch endet, ist es, als hätte man eine Reise hinter sich. Eine Reise, deren Anfang und Ende man sich gleichermaßen herbeigesehnt hat. Eine Odyssee, die einen gleichzeitig in sein inneres Exil und das Exil eines Anderen geführt hat, das wiederum das eigene ist. Eine Lektüre, die so viele Fragen aufwirft, wie sie andererseits Antworten liefert.
Sucht man in der jetzigen Realität nach einem Pendant zu dieser Leseerfahrung, kann man es heute im schrecklichsten Brandherd dieser Erde lokalisieren: In der Realität des syrischen Frühlings, dessen erste Regungen sich im Jahre 1980 zutrugen,[1] die dann im Jahre 2011 zu einem echten Frühling explodierten. Einem Frühling, dessen Blüten wesentlich röter ausfielen als die der anderen Revolutionen.
Im Zuge der Lektüre begegnet man auch den Streitigkeiten innerhalb der syrischen Opposition und deren Persönlichkeiten – genau wie man sie auch in der heutigen Gegenwart beobachten kann. Auch der legendäre Widerstand des oppositionellen politischen Gefangenen Riad al-Turk (die einzige Figur, deren Namen der Autor im Roman nicht geändert hat) besteht heute noch in der Realität weiter: Im Buch wie auch heute sieht man ihn gegen die Auslöschung seines Volkes Widerstand leisten, im Romangefängnis, wie auf den Straßen des heutigen Freiheitskampfes, mit der immer gleichen Geisteshaltung: Standhaft gegen das Unrecht haltend, die Samen der Hoffnung verstreuend, die schon bald zu keimen beginnen und Blüten tragen, deren Pollen die Protestbewegung in alle syrischen Städte bringen, die wiederum geduldig unter dem tödlichen Feuer des Staates ausharren.
Der Roman des syrischen Dichters Al-Muthanna Al-Sheikh Attia „Die Dame des Königreichs“, der Ende 2006 beim Arabischen Institut für Studien und Veröffentlichungen in Beirut erschienen ist, handelt im Grunde genommen von einer unmöglichen Liebe, in der sich der Urkonflikt zwischen der unterdrückten Weiblichkeit und dem unterdrückenden Patriarchat widerspiegelt. Die verheerenden psychischen Auswirkungen, die dieser Konflikt gleichermaßen auf Frau und Mann hat, bilden im Roman ein tiefes existenzielles Exil. Doch auch in der äußeren Rahmenhandlung des Romans findet sich das Motiv des Exils wieder: Das politische Exil als Erzählort, in dem sich die Ereignisse jener Liebe im Schatten politischer Verfolgung, Haft und eines tyrannischen Regimes abspielen, das seine Opponenten ermordet und einen verheerenden Krieg führt, der die Figuren des Romans vor unmögliche Entscheidungen stellt. Es gelingt dem Autor, den Realismus der Erzählweise mit den ausgedacht wirkenden Figuren harmonieren zu lassen. Die inhaltliche Brisanz des Romans hat in vielen Ländern zu dessen Verbot geführt. Es ist ein hochexplosiver Roman in jedem Sinne, voller Besonderheiten, wie sie nur eine spannende Lektüre bieten kann: Auf der Ebene des Alltäglichen und des Mystischen, des Persönlichen und des Allgemeinen sowie auf der Ebene von Lyrik, Prosa, Kunst, Sprache und Romanstruktur. Als würde dieser Roman, der mit der irrsinnigen Wucht einer Gedächtnisflut über ganze dreihundertzwanzig Seiten strömt, am Weg der Unmöglichkeiten haltmachen, um seine Figuren und seine Leser dort abzusetzen.
Auf der Ebene des Alltäglichen und des Mystischen sehen wir die Tragödie der Urmutter Ishtar mitsamt ihrer Symbolik in der Figur der Nora verkörpert: ein nettes, liebevolles Mädchen, das sich seinen Mann selbst aussucht und ihm einen Sohn gebärt. Spürbar für jeden in ihrer Nähe, versprüht sie den Geist der Fruchtbarkeit. Doch angesichts des exzessiven Machotums und der Frauenunterdrückung wird sie zur Kämpferin. Das Element des Kampfes flammt erneut in der Figur des Sohnes auf, der das Zerbrechen der Beziehung seines Vaters und seiner Mutter miterlebt und als seelischen Schaden eine Liebesblockade davonträgt. Diese versucht er zu überwinden, indem er sich vollends in die Welt des Femininen begibt. Lebhaft engagiert er sich für Frauen in allen Einzelheiten des Lebens: durch seinen Kampf für Demokratie wie auch bei seinem Engagement in der feministischen Bewegung. Über sein Sich-Einsetzen für andere gelingt es ihm schließlich, sich selbst zu heilen.
Was das Persönliche und Allgemeine betrifft: Vielen Lesern ist aufgefallen, dass die Erzählorte, die Geschehnisse und die Figuren des Romans vieles über den Lebenslauf des Autors enthüllen, sowohl über dessen politische Arbeit in Damaskus als auch über sein Exil in Paris und seine journalistische Arbeit während des Zweiten Golfkriegs bei der Zeitschrift „Die neue Scheherazade“ in Limassol.
Auf die mehrfach geäußerte Behauptung hin, der eigentliche Held des Romans sei eigentlich der Autor selbst, erwiderte Al-Sheikh Attia: „Es gedient natürlich meiner Eitelkeit, dass man mich für den Helden meines Romans hält. Zweifelsohne werde ich diesen Umstand ausnutzen, um die Leserinnen zu betören, die der liebenswerten und faszinierenden Romanfigur Hannibal al-Abed verfallen sind. Doch ich bin es leider nicht. Die Figur Hannibal al-Abed ist aus all meinen großartigen Freunden zusammengeschustert, aus meinen Genossen bei der syrischen demokratischen Opposition, deren Freundschaft mir unendlich viel bedeutet, und ich danke meiner Zeit, die es mir gestattet hat, ihre Bekanntschaft zu machen.“
Der Literaturkritiker Nadeem Jarjoura wies einmal auf den besonderen Schreibstil hin, dem seines Erachtens die Tatsache zu Grunde liegt, dass al-Sheikh Attia sich als Dichter mit diesem Werk zum ersten Mal an den Roman gewagt hat: „Der Stoff, aus dem ‚Die Dame des Königreichs‘ gewebt ist, lässt sich weder als literarische Prosa noch als anekdotenhaftes Erzählen aus dem Leben des Autors ausreichend beschreiben. Bei seinen Exkursionen ins Subjektive, in die Welt der Emotionen, der seelischen und körperlichen Zustände, bedient sich Al-Sheikh Attia meisterhaft der Atmosphäre der Prosadichtung.
Die spezielle Ästhetik des Romans ist gleichsam Instrument, dem Beschreiben des Menschlichen, des Sozialen und des Subjektiven einen schöneren Trägerstoff zu geben. Und dieser Trägerstoff macht es gerade erst möglich, das auszudrücken, was in den Subjekten vor sich geht an Wut, Enttäuschungen, an Zerrissenheit und Brüchen. Der Autor wählt ein rohes Beschreiben, das sich jedoch im lyrischen Raum bewegt, als effektives Mittel, sich dem großen Schmerz und der tödlichen Erschöpfung seiner Figuren zu nähern und öffnet so den Raum für ein literarisches Narrativ, das Zugang schafft zu verborgenen, im Raum stehenden Welten und Fragen. Besonders in den letzten Jahren sind solche Mischformen zwischen Lyrik und Roman eine weit verbreitete Technik in der arabischen Literaturszene. ‚Die Dame des Königreichs‘ jedoch schafft es, der Lyrik weitreichend und auf schöne Weise ‚treu‘ zu bleiben, besonders in den menschlich bewegenden Momenten des Romans.“
„Die Dame des Königreichs“ hat eine offene Romanstruktur, durch die sich zwei Erzählzeiten ziehen: die der Jetzt-Zeit, und die der Kindheit, anfangs parallel verlaufend, um sich später miteinander zu verschränken, bis hin zur Verschmelzung, wo der endgültige Pfad der Figuren kenntlich wird, und das Ende des Romans sich schließlich auf dessen Anfang öffnet. Durchgehend ist ein eigenwilliger Stil, bei dem klassisches Geschichten-Erzählen und Prosadichtung ineinanderfließen, dem Zusammenspiel der Geschehnisse und den Exkursionen in die Dimensionen des Subjektiven folgend.
In einem Interview zu seinem Buch, auf die Frage hin, wie es zum Titel kam, antwortete der Autor: „Ich könnte mir vorstellen, dass der Titel einfach – ohne, dass mir ganz klar wäre, wie – bei der ersten seltsamen Begegnung meines Romanhelden mit unserer großen syrischen Mutter Ishtar, der ‚Göttin der Fruchtbarkeit‘ zustande kam, nachdem er dreitausend Jahre lang an den Ufern des Euphrats auf sie gewartet hatte. Ich könnte mir auch einen Zusammenhang zwischen dem Titel des Romans und der Kindheit des Helden vorstellen, vor dem Hintergrund der zermürbenden Konflikte seiner Mutter mit der Welt der Männer. Vielleicht spielt da auch der Geist der Generation der 70er und 80er hinein, von der der Roman ja handelt. Damals träumte man leidenschaftlich von Befreiung, war aber gleichzeitig Gefangener der eigenen Besitzgier. Man lebte in irrwitzig romantischen Illusionen, wo sich die Idee der Heimat mit dem Begriff der romantischen Liebe vermischte. Es könnte aber auch sein, dass ich den Titel als Hommage an die Frauen des Euphrats und des Orontes gewählt habe, die ihre eigenen Wege haben, die Hyper-Maskulinität mit ihren trügerischen Irrbildern und ihren Formen von Gewalt zurückzuschlagen. Es kann aber auch sein, dass ich mit der Wahl dieses Titels unbewusst versucht habe, meine eigene Kindheit wiederherzustellen und meine geliebte Schwester und beste Kindheitsfreundin auf die Erde zurückzuholen, nachdem sie, weiß Gott warum, in ihren Himmel aufgestiegen ist.
Vielleicht aber auch, weil ich der Liebe meines Lebens, mit der ich dann auch für den Rest meines Lebens zusammengeblieben bin, zum ersten Mal in der Kirche der Jungfräulichen Dame in Damaskus begegnet bin, das war am 21. März … Und vielleicht gibt es auch ganz andere Gründe, die mir gänzlich verborgen sind.“
Was den Schluss des Romans betrifft: „Noras Bild zieht vorbei. Ich ertrinke im Teich ihrer Augen, sie umhüllt mich zärtlich damit. Ich höre ihre Stimme, wie sie versucht, mich zu beruhigen: Sie sei jetzt ganz zufrieden mit ihrer Rückkehr zur Familie, sie werde vielleicht mit Youssef nach Zypern ziehen, oder aber zurück nach Syrien oder Jordanien. Sie sagt, ich solle gut auf mich aufpassen. Lachend antworte ich: ‚In Ordnung, Mama.‘ Ich lasse mich mit tränenden Augen zurück in meinen Sitz fallen, ertrinkend im Wasserfall ihrer Bilder, auf denen sie barfuß im Sand des Strandes steht. Die Wellen zerschellen an ihren Zehen, ihre Füße küssen die Wellen, die es nicht ertragen können, sich auflösen und verblassen. Sie schlägt mir mit ihren Händen an die Brust, tränenden Auges, lachend. Ich nehme ihre Hand. Entspannt und schläfrig setzt sie sich in den Schoß meines Weines. Wie dringend ist mir doch danach, deine Schläfrigkeit zu küssen.
Zwischen den Händen des Meeres lacht sie, über das auf seinem Boot kopfstehende Kind zwischen ihren Händen. Unwillig versteckt sie den Silberglanz eines Mondes, der erst schwebt, um dann ihre Lippen zu bewohnen. Und ich sage zu ihr: ‚Ich wäre fast gestorben.‘ Und sie lacht weinenden Auges. Sie schlägt mich auf die Brust. Der Tränentau reißt ein und fließt ihr die Wangen hinunter. Sie entkommt der Wärme meiner Hand und ich sterbe. Sie setzt sich ruhig, ergeben, vollkommen, auf den Mond und das Meer.“
[1] Anm. d. Übers.: Badawi bezieht sich hier auf die Protestwelle, die Syrien 1979/1980 erfasste, getragen von Linken, Demokraten, Säkularen und Islamisten. Eine Protestwelle, die dann in einen bewaffneten Aufstand der Muslimbrüder mündete, der schließlich mit dem Massaker von Hama niedergeschlagen wurde, bei dem die syrische Regierung damals unter Hafiz al-Assad zwischen 20.000 und 30.000 Menschen durch ihre Luftwaffe töten ließ.
Weblinks
→ Die Initiative gegen Folter von Amnesty International
→„1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke“ auf den Seiten der UIlstein Buchverlage
→ Raif Badawi auf Twitter
→ Badawis Frau, Ensaf Haidar, auf Twitter
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