„Den Drachen zähmen”:
Ein Plädoyer für das Recht auf Vergessenwerden

Auf der letzte Woche zu Ende gegangenen re:publica wurden dieses Jahr auffallend viele politische Themen verhandelt – so auch das „Recht auf Vergessenwerden“, das Nutzern die Löschung personenbezogener Daten im Internet ermöglicht. Experte Martin Hellweg betont die Wichtigkeit einer solchen Regelung und plädiert für eine Verankerung dieses Rechts im Grundgesetz, um Datenbrokern & Co. das Handwerk zu legen.

von Martin Hellweg

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Mehr als zwei Drittel der europäischen Bürger erachten gemäß einer jüngeren Umfrage ihre Privatsphäre durch die Nutzung digitaler Technologien als bedroht. Das sind alarmierende Werte. Die digitale Welt prägt unser Leben. Und zugleich vertrauen wir ihr nicht mehr. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Es muss deshalb etwas passieren. Das deutsche Datenschutzgesetz wurde zuletzt 1991 als komplette Neufassung verabschiedet, zu einer Zeit, als der kleine Drache namens Internet gerade mal aus dem Ei schlüpfte. Heute ist er ein gigantisches Wesen und fegt mit Lichtgeschwindigkeit um den Erdball, über Grenzen, Konventionen und niedliche Datenschutzgesetze aus der grauen Vorinternetzeit hinweg.

Auf der letzte Woche in Berlin über die Bühne gegangenen re:publica wurde – wieder einmal – intensiv über Datenschutz und Privatsphäre im Internet-Zeitalter debattiert. Immerhin, es wird diskutiert. Das zentrale Problem dabei: Der gesellschaftspolitische Diskurs kann mit dem technischen Fortschritt in keiner Weise Schritt halten. Hinter vorgehaltener Hand lächeln die Internetgiganten im amerikanischen Silicon Valley über die niedlichen, aber im Grunde hilflosen Versuche von Politikern und sonstigen Aktivisten, die Privatsphäre der Bürger zu retten.

Aus den fünf Gigabyte an Daten und Metadaten, die wir im Schnitt pro Tag durch eigenes Handeln unbewusst hinterlassen, erstellen sogenannte Datenbroker umfassende Persönlichkeitsprofile. Sie wissen mit erschreckender Genauigkeit, was wir denken und fühlen. Sie kennen unsere politischen und gesellschaftlichen Ansichten. Und auch da hört es nicht auf. Vor dem US-Kongress informierte Pam Dixon vom World Privacy Forum kürzlich darüber, dass Datenbroker auch Listen von Personen anbieten, die vermutlich schon mal vergewaltigt wurden oder Erektionsprobleme haben. Die Datenbroker beschwichtigen, all dies würde nur der Vermarktung von Produkten dienen. Aber selbst das ist nicht jedem genehm. Und wer kann garantieren, dass diese Listen nicht zukünftig auch noch von Krankenkassen, Arbeitgebern und sonstigen Interessenten gekauft oder von Hackern aus purem Spaß ins Internet gestellt werden?

All diese Entwicklungen entgleiten den Gesetzesgebern. Es herrscht digitaler Wildwest. Einige willige Politiker erkennen dies durchaus. Doch bei allem Respekt vor ihrem Einsatz – hinter vorgehaltener Hand sagen die meisten, dass sie selbst nicht daran glauben, den Drachen Internet noch einmal einfangen zu können. Diese Vogel-Strauß-Haltung führt dann auch zu nichts wirklich Wirksamen. Und so kommt selten mehr als einen Flickenteppich an Regelungen heraus. Allein deren Ausarbeitung braucht Jahre, anschließend vergeht weitere Zeit, bis die Schlupflöcher darin erkannt werden. Zu viel wird in der Zwischenzeit auf technischer Seite passiert sein. Im Silicon Valley lacht man sich derweil weiter ins Fäustchen – der Drache schüttelt sich und fliegt weiter. Die kleinen politischen Scharmützel in Europa verderben ihm höchstens kurz den Appetit, doch das große (Daten-)Fressen schreitet unaufhaltsam voran.

Es braucht eine Auffanglösung: etwas, was über die Zeit hinweg robust ist und nicht bereits durch die nächste technische Entwicklung überholt ist, etwas, was ohne großen Aufwand Korrekturen erlaubt, wenn die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind. Es mag überraschen, aber wir kennen die Lösung bereits aus unseren Datenschutzgesetzen. Sie hat in diesen Gesetzen nur keinen ausreichenden Stellenwert und wird in ihrer Wirkung völlig verkannt: Als zentraler Hebel zur informationellen Selbstbestimmung kommt nur ein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Löschung personenbezogener Daten infrage, ein Recht, das durch winzige Zeilen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder sonstige Verträge nicht entzogen werden kann. In der Schweiz, in der das Volk die Verfassung ohne Umwege direkt selbst ändern kann, versucht die Safe Surfer Stiftung unter dem Titel „Meine Daten, Mein Leben, Meine Zukunft“, eine solche Verfassungsänderung zu erreichen. Im Idealfall wird dies eine Blaupause für Europa sein.

Seit jeher dürfen wir im Offline-Leben wegwerfen, schreddern und vernichten, was wir nicht mehr aufbewahren wollen. Genau so müssen wir dies in der digitalen Welt können. Die Möglichkeit, hinter sich aufzuräumen, ist bei den Datenmassen, die über uns gesammelt werden und dem, was damit gemacht werden kann, eine Frage der Menschenwürde. Unsere digitale Datenspur kann unser Leben so tiefgreifend beeinflussen, dass das Recht zur Löschung personenbezogener Daten als ein Grundrecht in der Verfassung verankert sein muss und der Bürger den Gesetzgeber im Zweifelsfall in die Pflicht nehmen kann, ihm die Löschung zu ermöglichen. Greifen Datenschutzgesetze nicht und laufen sie wie seit nunmehr über zwei Jahrzehnten der Entwicklung hinterher, kann der Bürger mit dem Recht zur Löschung seine Datenlage zumindest rückwirkend bereinigen und erhält so eine neue Chance. So kann weiter debattiert, formuliert und geregelt werden. Der Bürger hat derweil mit dem gestärkten Löschungsrecht die Möglichkeit, korrigierend einzugreifen und sein Schicksal in die Hand zu nehmen.

Damit ein wirksames Recht auf Löschung personenbezogener Daten entsteht, müssen entsprechende Regelungen in Europa dann auch konsequent durchgesetzt werden – gegenüber jedem, der hier digital Inhalte verbreiten und Dienste anbieten will. Wer sich nicht an den hiesigen Datenschutz hält, findet in Europa nicht statt. Nicht durchsetzbar? Stimmt nicht. Die Umsetzung des Urheberrechts zeigt uns den Weg. Versuchen Sie mal, ein Fußballspiel auf einem ausländischen Internetkanal zu sehen, für den im Inland keine Rechte vergeben wurden. Es wird nicht gelingen. Da funktioniert die Durchsetzung von Recht Region für Region offenbar sehr gut. Gesetzlich relevant muss sein, was auf dem eigenen Territorium Auswirkungen zeigt, und nicht, wo die Daten bearbeitet werden. Dieses Auswirkungsprinzip kennt der Gesetzgeber grundsätzlich auch heute schon. Es muss nur konsequent angewendet werden. Und: Der Tiger braucht Zähne. Die bisher üblichen Strafen bei Verletzungen des Datenschutzes sind lächerlich. Bei der Durchsetzung des Kartellrechts sieht man, wie wirklich empfindliche Strafen aussehen. Es steht sehr viel auf dem Spiel: unsere freiheitliche, soziale Gesellschaftsordnung. Die Sanktionen müssen adäquat sein.

Man wird Mut brauchen für diesen Schritt. Der Drache wird Feuer speien, weil er weiß, dass das gestärkte Löschungsrecht geeignet ist, ihm nachhaltig die Krallen zu stutzen. Sein Feuer wäre jedoch nur ein leerer Bluff. Google & Co wollen vor dem Konsumenten die „nice guys“ sein. Deshalb investieren sie massiv in ihr Image. Keine Veranstaltung dieser Tage, an der nicht ein Google-Manager Schönwetterpredigten hält. Eine tiefe Spaltung der Gesellschaft in Pro-Google und Contra-Google wäre für die Vorhaben des Unternehmens ein Albtraum. Am Ende wird man sich darum arrangieren und das Arrangement wird so übel für die Internetunternehmen nicht sein. Denn die wesentlichen Elemente der Geschäftsmodelle der Unternehmen sind weiter möglich. Eine Google-Maps-Wegweisung gegen Werbung ist weiterhin uneingeschränkt erlaubt. Nur kann der Nutzer später einmal diese Daten löschen. Der Drache könnte weiter fliegen. Aber er wäre gezähmt.


 

Weblinks
Die offizielle Website zum Buch „Safe Surfer – 52 Tipps zum Schutz ihrer Privatsphäre im digitalen Zeitalter
„Safe Surfer“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die Website von Martin Hellwegs Agentur „Virtual Bodyguard“

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